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Erinnerung, sanftes Lieht

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Helga Ungers „Entfernungen - Briefe der Dorothea F.” erhielt einen der Förderungspreise des Wettbewerbs für christliche Literatur/Roman der FURCHE und des Verlages Styria.

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Helga Ungers „Entfernungen - Briefe der Dorothea F.” erhielt einen der Förderungspreise des Wettbewerbs für christliche Literatur/Roman der FURCHE und des Verlages Styria.

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Grenze Krankheit Zweimal habe ich dich heute schon angerufen, um eine Begegnung gebeten; ich habe eine Kreislauf-schwache, fühle mich elend, hilflos, einsam. Dann hat Dr. Clemens, der seit langem für mich Verschollene, angeläutet. Er ist aus dem Walfisch-Bauch, dem Krankenhaus, wieder aufgetaucht.

In knappen, abgerissenen Sätzen erzählt er von den Erfahrungen während der Behandlung seiner Gehirn-Durchblutungsstörungen, seines Herzmuskelschadens, von der Leidenszeit endlos langer Nächte. Einmal habe er, als er nachts auf den Korridor gegangen sei, einen Toten aufgebahrt gesehen, der sein ehemaliger Patient war. „Es ist etwas anderes, wenn du in der Anatomie eine Leiche aufdeckst als junger, gesunder Mensch, oder wenn dir, dem Kranken, nachts Umhergetriebenen, plötzlich das nahe eigene Schicksal so unverblümt ins Auge springt.”

Am nächsten Morgen hatte er einen Blick in das zufällig liegengebliebene Krankenblatt geworfen, das seine eigene Krankheit als unheübar bezeichnete. Clemens ließ einen Test wiederholen, um dieses Urteü zu revidieren. .Aber”, sagte er mit fast gelähmter Stimme: „Ich weiß jetzt, was Sterben bedeutet. Der Rest ist nur noch Ausführung.” Ich stammle etwas von Annehmen, schäme mich, daß ich so etwas zu äußern wage. .Annehmen”, wiederholt er, „das sagt sich so leicht und lebt sich so schwer. Weißt du, was es heißt, nicht mehr beten zu können, den Abgrund zu spüren, der dich von den anderen trennt?” Noch einmal mache ich einen hilf slosen Versuch: „Die Mystiker nennen es die Nacht der Seele. Denk an Johannes vom Kreuz.”

Ich sinne nach, wieviele Menschen er an die dunkle Schwelle begleitet haben mochte. Wer wird ihm bis zu der unbekannten Grenze nahe sein? Seine Frau, seine Tochter, ein Kollege, eine Nachtschwester oder ein Mitpatient? Plötzlich sagt Dr. Clemens unvermittelt: „Ich möchte danken, daß ich dir begegnen durfte, daß ich mit dir sprechen kann; wir haben das wohl beide, das Verstehen aus Sympathie, spontan empfunden seit dem ersten Augenblick unserer Begegnung.” Ich muß an mich halten, damit er meine Betroffenheit nicht zu sehr merkt.

Er hat unsere Beziehung, Lieber, von Anfang an mit kritischer Einfühlung begleitet. Als ich ihm gestehe, daß unsere Freundschaft aller Begrenzung zum Trotz Bestand hat, meint er: „Wenn es nur Leidenschaft gewesen wäre, wäre es längst zuende.” Ich muß unwillkürlich denken: „Ein jedes Ding hat seine Zeit. Und alles Tun unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden hat seine Zeit. Sterben hat seine Zeit! Weinen hat seine Zeit und Lachen hat seine Zeit, Klagen und Tanzen.” Das ist so wahr wie die Erfahrung von Sonne und Regen, Hitze und Kälte, Liebe und Haß. Aber tröstet es, daß wir unter einem Gesetz leben, dessen Tonus Wandel heißt? Wechsel, Wandlung, Vorübergang.

Ich möchte aufschreien, möchte Dr. Clemens sagen, daß alles nur Durchgang ist. Aber ich spüre, wie die Kluft zwischen ihm und mir mit jeder Sekunde lautlos wächst.

Du, Namenlos. Merkwürdig: Mein Gedächtnis ist ein ziemlich zuverlässiger Chronist unserer Geschichte. Doch an eines kann ich mich bei aller forschenden Anstrengung nicht erinnern: Wann und unter welchen Umständen wir uns zum erstenmal „du” gesagt haben.

Bei anderen Männern weiß ich meist noch genau Anlaß und Einzelheiten. Meist war ich es, die nach langer Bekanntschaft den Vorschlag zur vertrauteren Anrede machte, durchaus nicht immer zur Freude des anderen.

Ist dir schon einmal aufgefallen, Lieber, daß auch wir unsere Vornamen nie benutzen, daß ich für dich einen Ersatznamen erfunden habe, und du, glaube ich, hast mich überhaupt noch nie bei einem Namen genannt? Für dich bin ich die Namenlose, Losgelöste; scherzhaft gesagtes „du” allenfalls: „Du, du”, und das einzige, was du beiläufig im Gespräch einfließen läßt ist: „Schatz”. Aber es klingt nicht wie etwas Kostbares, das man hüten muß, allenfalls verbergen.

Ob es etwas zu bedeuten hat, daß wir einander nicht beim Namen rufen können, ursprünglich, spontan, selbstverständlich? Bei deinem Namen kann ich dich nicht rufen, denn du gehörst mir nicht, Fremder, Ungezähmter. Einen Freund erwirbt man dadurch, daß man ihn zähmt, sagt bei Saint-Exupery der Fuchs zum kleinen Prinzen. Wir können einander nicht zähmen. Alle hilflosen, kühnen, grenzgängerischen Versuche sind uns mißlungen. Unsere Trauer: Hirse, klein gemahlen und stumpf.

Ich möchte mit dir alt werden. Die Fahrt von Salerno nach Paestum war, verglichen mit der windungsreichen Küstenstraße zwischen Sorrent und Amalfi, enttäuschend. In endlosem Einerlei zogen Großreklame-Tafeln, Telegraphenmasten an unseren Augen vorüber, und Baracken, die Sommerurlaubern für ein paar Wochen zur flüchtigen Unterkunft dienen.

Damals, am zweiten Weihnachtsfeiertag, als wir durch die karge Winterlandschaft fuhren, erschien uns die Gegend reizlos, öde, leer. Das Meer lag in unbestimmbarer Entfernung. Nach etlichen Kilometern Fahrt an häßlichen, balkenverschlossenen Kiosken vorbei, öffnete sich der Blick auf ein weites, leicht welliges Wiesengelände, mit Ölbäumen, Tamarisken und vereinzelten Pinien bestanden. Dazwischen, im mittäglichen Sonnenlicht schimmernd, standen die Tempel von Paestum: zwei breite dorische nebeneinander, ein kleinerer jonischer etwas abseits, vereinzelt. Keine umgestürzten Säulentrommeln. Hier stand und ragte Säule für Säule in den lichtblauen Winterhimmel. Zwischen Fundamenten und Sockeln im

Außengang und in der Cella wuchsen und sprossen unbeirrbar Gräser, Sträucher, Bäume.

Ich weiß nicht, wie lange wir umhergewandert sind in diesem mehrfachen Geviert, in den Säulenhallen, die sich erhalten haben gegen Zeitfraß, Naturfraß und Abbau durch Menschen. Hier herrschte in der sumpfigen Senke einst die gefü/chtete Malariafliege. „Wenn du griechische Tempel sehen willst, mußt du nach Paestum gehen”, hatte Katharina gesagt. Nein, wir haben uns keinem Reiseführer anvertraut, keiner gelehrten Abhandlung und auch keinem Ortskundigen. Wir wollten nicht Gelesenes oder Gehörtes finden. Wir wollten unser Paestum entdecken. Wir wanderten zwischen den Tempeln umher und schauten, setzten uns in den Schatten der Säulen und schauten. Schwiegen. Schauten.

In die von einem Schwärm Wildbienen vertiefte Stille klang auf einmal deine Stimme, so als käme sie aus einem Brunnen: „Ich möchte mit dir alt werden.” Ein einziger Satz.

Es war nicht, wie ich es sonst an dir kannte, ein vorsichtiges Erproben, ein spielerisches Entwerfen. Du sagtest nicht: „Ich könnte mir vorstellen, mit dir alt zu werden.” Das hätte ich, bei aller Überraschung, noch irgendwie einordnen können. Du hast auch nicht, wie dies in Japan Sitte ist, wenn ein junger Mann sein Mädchen um die Ehe bittet, gesagt: „Willst du mit mir alt werden?”

Als mir die Besinnung zurückkehrte, nach geraumer Weile, versuchte ich einen Zweig vom nächsten Strauch zu brechen. Es war ein junger Ölbaum mit äußerst geschmeidigen, safterfüllten Ästen, der sich meinem Unterfangen beharrlich widersetzte. Du sahst mir zu, kamst mir aber nicht zu Hüfe. Schließlich begann ich einen der untersten Zweige mit einer Hand am Stamm herunterzubiegen, während ich dir die andere Hand entgegenstreckte. Du blicktest ratlos; offenbar hast du mich nicht verstanden. Nach einigem Zögern gabst du mir schließlich die Hand. Der Zweig jedoch mit seinen silbriggrünen Blättern ließ sich nicht weiter biegen; vielmehr schnellte er plötzlich hoch und streifte auffahrend unsanft mein Gesicht. Erschrocken fuhr ich zur Seite.

Wir werden miteinander nicht alt werden, wollte ich sagen. Aber ich schwieg. Wir standen, Aug in Auge, zwischen den Säulen und Ölbäumen unter der Wintersonne von Paestum, hellsichtig, geblendet.

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