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Erinnerungen an den Eisstock

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Wo ich auch hinkam und Eisschützen beim Eisschießen zusah, an keiner der anderwärts gepflogenen Spielarten und Varianten fand ich Gefallen, sie kamen mir alle, verglichen mit unserem oberösterreichischen Modus ludendi, eher unvernünftig und reizlos vor.

Manchmal stand ich, bei verschiedenen Reisen, in der Steiermark, in Salzburg oder in Kärnten, Winterszeit am Rand eines Teiches oder eines künstlich hergestellten Eisplatzes und beobachtete mit Interesse und Verachtung die sichtbar enttäuschende Kümmerform eines an sich prächtigen Sportes, wenn er in Anlage und Ausführung sein hohes und ideales (oberösterreichisches) Niveau erreicht...

Ich war oft versucht, dreinzureden, etwas einzuwenden und Ratschläge zu erteilen, und nur mein Widerwillen, zu wildfremden Leuten irgend etwas zu sagen, war stärker und größer als mein Mißfallen an den fremden Spielregeln und Spielunarten. Was spielt ihr da nur zusammen, war ich versucht zu sagen, oder auch: Was verwendet ihr da nur für unmögliche Stöcke! Was ich an Eisstöcken und Gerät erlebte, entsprach ganz und gar nicht den Erwartungen eines Hausruckviertiers von einem Eisstock. Das waren brettebene Scheiben mit langen, einer großen Pfeife nicht unähnlichen Stielen und einem elend krummen Knauf. Die alpenländischen Eisbahnen waren nach meinem alpenvorländischen Dafürhalten viel zu lang, hatten ein ungünstiges Seeformat und erlaubten darum kein präzises und gezieltes Arbeiten, auch kein kräftiges Verschießen gegnerischer Stöcke von jeder gewünschten Seite und mit dem besonderen, haargenau und scharf be-messsenen Nachdruck.

Der große Abstand von der sogenannten Fuße, dem ins Eis geritzten Grübchen zum Einsetzen des Fußes, bis zur sogenannten Taube, einem beweglichen Holzklötzchen, dem Ziel- und Angelpunkt des ganzen Spieles, das manchmal, wenn darauf geschossen wurde, seinen Namen wörtlich nahm und durch die Luft flog, degradierte die alpenländische Ausprägung des Eisschießens zu einem Glücks- und Lotteriespiel. Das waren nur einige der Fehler, die ich unterwegs wahrnahm. Ich konnte ein solches Spiel nicht ernst nehmen.

Ich machte freilich die Feststellung, daß die Gepflogenheiten der Eisschützen nicht nur von Land zu Land, sondern bereits von Gemeinde zu Gemeinde, ja letztlich von Teich zu Teich verschieden sind, überquert man aber die Alpen oder fährt man in ein anderes Bundesland, so ist das Spiel fast nicht mehr wiederzuerkennen. Da stand man also, meinte besser zu wissen, wie es eigentlich gemacht gehörte, und wunderte sich, daß diese Menschen an ihrem kindischen Treiben eine solche Freude finden und sich mit einer solchen Ausdauer stunden- und tagelang nach sinnlosen Regeln einem durchaus unattraktiven Spiel hingeben können.

Sicher aber galt auch umgekehrt, daß ein Fremder und Auswärtiger unserer Spielweise nichts abgewinnen hätte können, was sich auch verschiedentlich zeigte. Das erwies sich etwa nach dem Krieg, als die nach Oberösterreich gekommenen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge das landesübliche Eisschießen erlebten - und verschmähten. Sie zogen sich auf eigene Teiche zurück, wo sie das Spiel nach den Regeln ihrer alten Heimat praktizierten. Ich hörte einmal einen Einheimischen, der ihnen dabei zugesehen hatte, darüber erzählen: Das war die Rede eines Orthodoxen und Rechtgläubigen über Häresie und Sektierertum.

Wenn ich von heute aus auf meinen eigenen seinerzeitigen kuriosen Eifer für die rechte Nebensache zurückblicke, dann ist er mir ein schönes Beispiel nicht nur für Heimatsinn und Beharrlichkeit, sondern auch für Starrsinn und Chauvinismus. Er illustriert nicht nur das Sprichwort: Was der Bauer nicht kennt, frißt er nicht, sondern auch die Schwierigkeit, jedem seine eigene Fasson zuzugestehen, nach der er selig werden will.

Am landlerischen Wesen wird der Eisstock genesen. (Chauvinismus plus Macht aber ergibt bekanntlich leicht Zwangsbeglückung.) Daß die Ordnung nicht nur auf dem Eis und beim Spiel solid und rigid, sondern auch im gesamten übrigen Leben versteinert und eingefroren waren, wurde mir schon sehr früh, gerade am Beispiel der Heimatvertriebenen, bewußt.

Nach dem Krieg lebten im Hausruckviertel viele Deportierte und Flüchtlinge aus dem Osten, in der Mehrzahl Donauschwaben. Auch in meinem Elternhaus lebte eine Familie aus dem Temescher Banat. Wie es im einzelnen zur Tragödie der Vertreibungen und Ausweisungen gekommen war, verstand ich als Sieben- und Achtjähriger natürlich nicht, daß es aber einen Krieg gegeben hatte und daß etwas sehr Schwerwiegendes und Trauriges vorgefallen war und daß zwischen diesem Krieg und den Flüchtlingen ein Zusammenhang bestand, wußte ich wohl.

Das Leben der Flüchtlinge aber war schwer, und sie hatten mein ganzes kindliches Mitleid. Auch dort, wo es die Flüchtlinge gut hatten, wie es hieß, was bei unseren Banatern vielleicht der Fall war (meine Familie jedenfalls war davon überzeugt), hatten sie es lediglich „gut" aus Mitleid, Gnade und Duldung. Man erwartete aber von ihnen Anpassung und nach all den bereits erlittenen Verlusten letztlich die Selbstaufgabe. Ohne eigentlich bösen Willen bei den Gastgebern, gab es für die Flüchtlinge viele Demütigungen in ihrer sogenannten neuen Heimat.

Ich erinnere mich daran, daß Vater manchmal sagte, dem Herrn Weißhaupt, dem Vater unserer Banater Familie, der bei uns arbeitete, müsse man die Landwirtschaft erst noch ein wenig beibringen. Er brauche noch ein wenig Hilfe und Nachhilfeunterricht im Landwirtschaften. Dabei war Herr Weißhaupt vor der Vertreibung selbst Bauer gewesen. Vater stellte ihn aber mit bevormundendem Wohlwollen als einen sozusagen unkultivierten Wald-und Wiesenlandwirt aus dem Osten hin, dem die feine mitteleuropäische Agrikultur offenbar noch fremd und ungewohnt war.

Banat und Balkan waren für meinen Vater so viel wie Asien, die Landwirtschaft, die in Bulgarien, Rumänien und Serbien betrieben wird, nannte er vorsintflutlich. Was aber mußte diese schlechte, wenn auch nicht so schlecht oder überhaupt gut gemeinte Behandlung für Herrn Weißhaupt bedeuten, der als freier und großer Bauer, wie seine Vorväter seit fast zweihundert Jahren, im fruchtbaren Rumänien gelebt hatte und nun als Knecht bei einem kleinen oberösterreichischen Müller, Klein- oder Beunthäusler dienen mußte, dessen in der Gegend verstreuter Besitz insgesamt 14 Joch, also ungefähr 7 Hektar ausmachte und somit mehr aus Grenzen als aus Grund und Boden bestand!

Wenn die Heimatvertriebenen von ihren Häusern und ihrem verlorenen Besitz sprachen, ernteten sie oft Ver-ständnislosigkeit und auch mehr oder weniger milden Spott. Erzählten sie von der Schönheit und unermeßlichen Fruchtbarkeit ihrer verlorenen Heimat, dann sagten die Leute: Was nicht noch alles, das Paradies und ein Schlaraffenland wird es auch nicht gewesen sein. Ihr übertreibt und schneidet wohl ein wenig auf.

Es zeigte sich aber, daß die Eingeborenen von den Rumänern, wie die Heimatvertriebenen auch genannt wurden, ob sie nun aus Rumänien, Bulgarien oder Jugoslawien kamen, doch so manches lernen konnten. Vor allem auf dem Gebiet der Gärtnerei, dem sozusagen edelsten Sektor der Landwirtschaft, zeigten sich die Rumänen als konkurrenzlos. Sie erwiesen sich als wahre Meister im Pflanzen, Ziehen, Zubereiten und Konservieren von Gemüse, Salaten und Früchten und allem, was damit zusammenhing. Ein Rumäner, sagten die Leute, braucht ein Gurkerl nur anschauen, dann wächst es schon.

Daß die Fremden auch sonst geschickt und handfertig und darüber hinaus auch umgänglich waren, das zeigte sich, als nach und nach einige von ihnen den Banater Ghettoteich verließen, aus ihrer halb selbstgewählten und halb aufgezwungenen Isolation heraustraten und sich unter das Volk mischten und bei den Einheimischen mitspielten.

Das war, was im besonderen das Eisschießen betraf, nicht auf jedem Teich möglich. Es gab ausgesprochen exklusive Moarschaften mit ausgesuchten Einheimischen. Dort wurde meist um teures Geld geschossen, die Schanze etwa um 5 Schilling. Schon dieser Tarif bedeutete den Ausschluß unbegüterter Schützen. Diese Hasardeure unter den Eisschützen hatten es auch nicht gerne, wenn ihnen irgendjemand zusah, der Einsatz verlieh ihrem Spiel etwas Privates und Diskretes. Auf diesem Teich galt das Bankgeheimnis.

Daneben existierten aber auch offene Gesellschaften, an denen sich jeder beteiligen konnte, sogar Banater. Hier spielte die Herkunft für die bloße Teilnahme keine Rolle, wenn auch alles, was ein nicht zur landläufigen Bevölkerung gehörendes Individuum vollbringt, immer und sofort mit seinem Außenseitertum in Zusammenhang gebracht wird. Wenn also ein Banater gut oder schlecht schoß, dann wunderte man sich in jedem Fall, entweder weil oder obwohl er doch ein Banater war. Das ist eine geläufige Erscheinung der Sozialisation, ein Fremd- oder Gastarbeiter kann ja heutzutage auch keinen Autounfall als normaler, das heißt schwacher Mensch verursachen, er verursacht ihn immer als Fremd- oder Gastarbeiter. Alles was er Gutes und vor allem Böses tut, tut er in seiner Eigenschaft als Fremder. Wichtiger als sein Eigenname ist in der Berichterstattung über seine Untaten sein gesellschaftlicher Ausnahmezustand.

Mitmischen und Mitspielen haben in jedem Fall die Eingliederung der Flüchtlinge beschleunigt. Die Fremdenangst verlangt darüber hinaus eine gewisse Kraft, eine permanente neurotische Energie, die aber allmählich wie die Spannung einer altgewordenen Batterie auch nachläßt. So wird Assimilation möglich.

Widerstände gegen ein reibungsloses Zusammenleben gab es bei der Mehrheit und bei der Minderheit aber weiterhin genug. Als unser Knecht um das Jahr 1947 ein schönes sudetendeutsches Mädchen heiratete, war die Enttäuschung seiner Eltern groß. Ehen wurden nach altem Väterbrauch hierzulande von den Eltern organisiert und immer noch, jedenfalls bei den Besitzenden, nach vernünftigen, das heißt wirtschaftlichen Gesichtspunkten der Mitgift und der Erbschaft geschlossen. Eine Verbindung zwischen einem Besitzenden und einer Habenichts oder auch zwischen einem einheimischen Habenichts und einem besitzlosen Flüchtling, wie im Falle unseres Knechtes, galt als ausgesprochener Fehl- und Mißgriff.

Ich habe als Kind das viel gesungene Lied Fein sein, beinander bleiben immer als fein bleiben und unter sich bleiben verstanden, so wie es die Reichen auf ihrem Teich hielten.

(Aus dem Buch „Vom Schnee der vergangenen Jahre" von Alois Brandstetter, Residenz-Verlag, Salzburg. Alois Brandstetter, geboren 1938 in Pichl in Oberösterreich, studierte Germanistik und Geschichte in Wien und lehrt Deutsche Philologie an der Universität Klagenfurt.)

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