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Erinnerungen an Lotte

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Er lag im Bett, mit glänzenden Augen. Alle im Zimmer wußten, woran er dachte, wenn seine Augen so glänzten.

Dann lag er ganz still, die Hände auf der Bettdecke gefaltet. Dann war er ganz weit weg. Bei ihr.

Sie muß ungewöhnlich schön gewesen sein.

„Und treu", pflegte er zu sagen, und dazu zwinkerte er mit dem linken Auge, weil Schönheit und Treue ja bekanntlich ...

„Treu wie Gold", sagte er mit einem tiefen Atemzug, „durch dick und dünn, in guten und schlechten Zeiten. Und wenn die Welt unter-

gegangen wäre, ich könnt mich auf sie verlassen."

Uber dem Erzählen schlief er oft ein. Er war sehr schwach.

„Hat er wieder von seiner Lotte geschwärmt, was?" Die Schwester zog die Decke glatt. Sie stellte die halbvollen Schüsseln auf ein Tablett, schüttelte den Kopf.

„Mehr essen, Alterchen, mehr essen."

Ob sie wußte, wie Erinnerungen zehren, wenn man von ihnen lebt?

Einer nach dem anderen wurde gesund, wurde entlassen.

Er nicht.

Drei Betten standen leer.

An den Nachmittagen kam seine Frau zu Besuch. Sie saß an seinem Bett, klein und grau, sah nach rechts, sah nach links, rückte die Blumen zurecht, öffnete das Fenster, schloß es, setzte sich wieder, kaum fähig, ihre Unrast zu verbergen.

Sie blieb nie lange.

„Ja, dann, bis morgen."

Sie schloß die Tür schnell.

Er schloß die Augen.

Sie waren zu zweit im Zimmer. Der junge Mann im Nachbarbett war nicht schwer verletzt. Totalschaden für das Auto, aber er hatte nur einen Arm gebrochen, und die Platzwunde an der Stirn, die genäht werden mußte, heilte schnell.

Ein Neuer, der von Lotte noch nichts wußte.

Er betrachtete den alten Mann, der mit geschlossenen Augen im Bett lag und flach atmete. Als er die Augen aufmachte, lächelte er ihm zu.

„Glück gehabt, was?"

Der Junge nickte.

„Sie werden bald hier rauskommen."

„Und Sie?"

„Ich auch. Meine Lotte erwartet mich."

Der junge Mann lächelte.

„Wenn Sie sie kennen würden, könnten Sie verstehen, daß ich's, kaum erwarten kann, hier rauszukommen. Obwohl — die Ärzte sind gut, die Schwestern freundlich. Aber meine Lotte — so was gibt's nur einmal. Treu wie Gold und so schön. Ein Hals, sage ich Ihnen, und die Augen, große braune Augen. Sie hat mich angesehen, und wir haben uns verstanden. Wortlos, verstehen Sie? Wenn sie ihren Kopf auf meine Schulter gelegt hat, sind mir die Tränen gekommen. Sie konnte zittern vor Freude, wenn sie mich am Morgen sah. Aber sie konnte auch zornig werden. Einen Kopf hatte sie, einen Verstand. Aber ihr Herz war größer."

Warum redet er in der Vergangenheit, dachte der junge Mann. Aber er fragte nicht.

„Und jetzt wartet sie auf mich. Sie weiß, daß ich bald komme."

Der junge Mann lächelte etwas ratlos.

„Erzählen Sie mir doch mehr von ihr."

„Morgen", sagte er, „morgen. Ich bin so müde."

Am Nachmittag kam die Frau wieder. Die Schwester flüsterte mit ihr in der offenen Tür. Die Frau blieb etwas länger als sonst und war etwas weniger rastlos. Sie sah ihren Mann an, machte ein paar Handbewegungen, als wollte sie hilfreich sein. Sie gerieten unsicher und ängstlich. Als sie ging, blickte sie durch den Türspalt noch einmal auf das Bett. Der junge Mann sah ihr nach. So sah sie also aus. Er verstand nichts.

Der junge Mann wurde am anderen Morgen entlassen. Er konnte sich nicht verabschieden von dem alten Mann, weil er schlief.

Zwei Tage später beschloß er, ihn zu besuchen. Er klopfte an die Tür des Krankenzimmers. Die Stimme, die „Herein" sagte, war die der Schwester. Die Betten waren leer.

Der junge Mann frage nach seinem Bettnachbarn.

„Der?" Die Schwester schlug kräftig auf ein Polster. „Der hat uns heute Nacht verlassen."

„Verlassen - ?"

Die Schwester hob die Schultern.

„Alt genug war er."

Der junge Mann sah auf das leere Bett. Der Schwester fiel etwas ein.

„Warten Sie, das hätte ich fast vergessen. Er hat was für Sie dagelassen. Ich hab's eingesteckt."

Sie fuhr mit der Hand in ihre Schürzentasche und zog einen blauen Briefumschlag hervor.

„Für mich?"

„Jaja, ausdrücklich für Sie."

Der junge Mann öffnete den Briefumschlag und zog eine Fotografie heraus. Er entzifferte mühsam die vier verblaßten Worte auf der Rückseite: „Meine Lotte und ich."

Er drehte das Bild um. Es zeigte einen jungen Soldaten, der ein Pferd am Zügel hielt. Die freie Hand hatte er auf den Hals des Pferdes gelegt. Der Soldat und das Pferd sahen sich an.

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