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Ernst, nicht hoffnungslos

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Die britische Wirtschaft, dieser nicht unheilbar kranke, aber keineswegs gesunde und ein wenig manisch-depressive Patient in der Europäischen Gemeinschaft hat wieder einmal mit einem seiner typisch ambivalenten Bulletins aufzuwarten. Das britische Handelsdefizit für den Monat Juli ist mit 294 Millionen Pfund das bisher höchste in diesem Jahr, und diese Tatsache allein genügte bereits, um den Aktienmarkt und den Stand des Pfund Sterlings weiter zu schwächen. Zieht man allerdings in Betracht, daß die Handelsbilanz der ersten sechs Monate von 1975 insgesamt die beste seit fast zwei Jahren war, und zieht man ferner von der Zahl für Juli den Betrag von 120 Millionen Pfund für eine Bohrinsel in der Nordsee ab, die offiziell, da mit amerikanischem Kapital gebaut, als Importposten gilt, nun aber von Großbritannien ausgebeutet werden wird, und berücksichtigt man dazu die sogenannten „unsichtbaren Exporte“ durch Bank-und Versicherungsgeschäfte in Höhe von rund 90 Millionen Pfund, dann kann mit einiger Berechtigung von einer Fortdauer einer leicht positiven Wirtschaftstendenz gesprochen werden.

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Die britische Wirtschaft, dieser nicht unheilbar kranke, aber keineswegs gesunde und ein wenig manisch-depressive Patient in der Europäischen Gemeinschaft hat wieder einmal mit einem seiner typisch ambivalenten Bulletins aufzuwarten. Das britische Handelsdefizit für den Monat Juli ist mit 294 Millionen Pfund das bisher höchste in diesem Jahr, und diese Tatsache allein genügte bereits, um den Aktienmarkt und den Stand des Pfund Sterlings weiter zu schwächen. Zieht man allerdings in Betracht, daß die Handelsbilanz der ersten sechs Monate von 1975 insgesamt die beste seit fast zwei Jahren war, und zieht man ferner von der Zahl für Juli den Betrag von 120 Millionen Pfund für eine Bohrinsel in der Nordsee ab, die offiziell, da mit amerikanischem Kapital gebaut, als Importposten gilt, nun aber von Großbritannien ausgebeutet werden wird, und berücksichtigt man dazu die sogenannten „unsichtbaren Exporte“ durch Bank-und Versicherungsgeschäfte in Höhe von rund 90 Millionen Pfund, dann kann mit einiger Berechtigung von einer Fortdauer einer leicht positiven Wirtschaftstendenz gesprochen werden.

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Auf den ersten Blick gesehen klingt dies ein wenig artiflziell, und auf denselben Blick scheinen zunächst auch die Schattenseiten der Wirtschaft die Lichtblicke stark zu überwiegen. Die britische Motorradindustrie, einst führend auf der Welt, ist der internatinalen Konkurrenz — besonders der aus Japan — offenbar nicht gewachsen, und die traditionsreiche Finna Norton-Villiers-Triumph steht vor dem Euin. Die verstaatlichten Industrien, an der Spitze die Britische Post, aber auch die British Steel Corporation und die Britischen Eisenbahnen, müssen Rekordverluste hinnehmen, und die, Arbeitslosigkeit hat die so lange gefürchtete Millionengrenze überschritten. Nimmt man dazu den langwierigen Leidensprozeß des Pfund Sterling, dessen tatsächliche Abwertung seit dem „Floaten“ der Währung nun 27,6 Prozent beträgt, dann scheint das Bild des wirtschaftlichen Fiaskos vollkommen zu sein.

Bie Lichtblicke aber1 sind,s—f-werni vielleicht auch nicht so schmerzhaft deutlich wie die Schattenseiten — trotzdem vorhanden.

Da ist in erster Linie die Lage an der Arbeitsfront. Ein Grund dafür, daß Großbritannien in den letzten Jahren hinter anderen Industriestaaten zurückgeblieben ist, was erhöhte Produktion und industrielle Expansion betrifft, war das miserable Klima der Arbeitsbeziehungen das zu so vielen und schädigenden Streiks im Land führte. Hier ist eine deutliche Besserung eingetreten. Für die ersten sechs Monate des Jahres 1975 ist die Zahl der durch Streiks verlorengegangenen Arbeitstage ge-gegenüber dem ersten Halbjahr 1974 um mehr als die Hälfte zurückgegangen, und wenn diese Tendenz anhält, dann könnten die Streikziffern dieses Jahres die niedrigsten seit sechs Jahren werden; zu einer solchen Prognose bestehen gute Gründe. So sind eben jetzt die beiden einzigen bedeutungsvollen Arbeitsaktionen einem gedeihlichen Ende zugeführt worden: Ein Streik bei Ford und ein Streik der Londoner Feuerwehrmänner, der bereits eine große potentielle Gefahr des Feuerschutzes der britischen Hauptstadt darge-gestellt hatte.

Diese Entwicklungen und diese Zahlen sind klare Beweise für die sich immer mehr verbessernden Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Großbritannien — ein Trend, der unleugbar mit der Regierungsübernahme durch die Labourpartei im Februar 1974 begonnen hat. Diese neue Atmosphäre wurde teilweise durch die Labourpolitik erhöhter Sozialleistungen und der wenigstens bisher noch eingehaltenen strickten Ablehnung eines staatlichen Lohnstopps geschaffen. Diese Maßnahmen haben zwar bisher zweifellos zu der Inflation beigetragen, die einer der Hauptgründe für die Verluste der Industrie ist, aber eben aus diesem Grunde hat ja jetzt die Regierung ihren Appell erlassen, künftige Lohnerhöhungen freiwillig auf sechs Pfund pro Woche zu beschränken, ein Appell, der selbst in militanten Kreisen wie etwa bei der Bergarbeitergewerkschaft erstaunlich positive Aufnahme gefunden hat.

Dazu kommt, daß die Labourpartei allen gelegentlichen Bocksprüngen einzelner ihrer Mitglieder zum Trotz offenbar einen echten Reifeprozeß erlebt, der sie zu den verschiedensten uncharakteristischen, aber durchaus realpolitischen Entscheidungen befähigt. Nicht länger mehr sind Unternehmer blutsaugerische kapitalistische Hyänen, mit denen klassenbewußte Arbeiter nichts zu tun haben wollen; die Regierung Wilson hat eine ganze Reihe dreiseitiger Konferenzen zwischen Regierungs-, Industrie- und Gewerkschaftsvertretern einberufen, bei denen es wohl heiß herging, aber doch einige echte Teilerfolge erzielt werden konnten; und die Meinung einiger Experten, daß die Labourideologie als Alleinheilmittel aller wirtschaftlichen Krisen nur eine fortgesetzte Verstaatlichung kenne, erhielt einen starken Stoß, als der neue Industrieminister Eric Varley kategorisch erklärte, nicht einen Penny aus Staatsgeldern für die vor dem Bankrott stehende Motorradfirma Norton-Villiers-Triumph aufwenden zu wollen.

So ist es alles in allem wohl auch nicht verwunderlich, daß ein Politd-H ker vom Range Edward Heath's im HH Unterhaus eine Rede hielt, in der er B^^^K den Abgeordneten die Annahme des IÜC j Weißbuchs der Latoourregierung über | die Bekämpfung der Inflation wärm-stens empfahl. Daß unmittelbar vorher sein Kollege Sir Geoffrey Howe, Schatzkanzler des konservativen Schattenkabinetts, genau das Gegenteil erklärt hatte, bewies nur einmal mehr die anscheinend unheilige Zerrissenheit der Tory-Partei und ihren völligen Mangel an klar umrissenen innenpolitischen Konzepten — von echten bürgerlichen Alternativlösungen ganz zu schweigen. Und Parteiführerin Margaret Tatcher hüllt sich weiter in damenhaftes Schweigen, das sie voraussichtlich erst bei der bevorstehenden Parteikonferenz der Konservativen brechen wird.

Zusammenfassend kann man also feststellen, daß das Befinden des britischen Patienten wohl ernst ist — recht ernst sogar —, aber durchaus nicht hoffnungslos. Es wäre schön, wenn man mit echter Zuversicht schon mehr sagen könnte, aber das ist zur Zeit wohl noch nicht möglich.

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