6950437-1984_10_08.jpg
Digital In Arbeit

Erst 632 nach Ford ?

19451960198020002020

1984 sollte man auch an Aldous Huxleys Roman „Schöne Neue Welt" denken, der genauso aktuell wie ,,1984" ist. Dazu zwei Texte von 1931 und 1959 und ein Kommentar.

19451960198020002020

1984 sollte man auch an Aldous Huxleys Roman „Schöne Neue Welt" denken, der genauso aktuell wie ,,1984" ist. Dazu zwei Texte von 1931 und 1959 und ein Kommentar.

Werbung
Werbung
Werbung

Es war nicht möglich, sich beim Erreichen des sprichwörtlich gewordenen Datums mit George Or-wells „Neunzehnhundertvierund-achtzig" zu befassen, ohne dabei auch zwei seiner wichtigsten Vorgänger in der utopischen Literatur unseres Jahrhunderts mit ein-zubeziehen — Jewgenij Samjatin mit seinem Roman „Wir", geschrieben 1924 unter dem Eindruck der bolschewistischen Revolution, und Aldous Huxleys noch bekanntere „Schöne NeueWelt", entstanden 1931.

Uber „1984" sind in den vergangenen 30 Jahren, vor allem aber nun zum „Gedenkjahr" Hunderte von Analysen geschrieben worden, die meist übereinstimmend zum Ergebnis kamen, Orwell habe gar nicht eine Prophezeiung dessen geben wollen, was uns 35 Jahre später bevorstehen würde, sondern eine ins Absurde überzeichnete Darstellung der Nachkriegszeit, wie er als enttäuschter Marxist sie gesehen habe.

Trotzdem lag es nahe, zu überlegen, wie weit der Große Bruder bereits tatsächlich über uns wacht.

Huxley überlegte bereits 1949, vor Erscheinen der zweiten Auflage, wie weit man sich bereits dem Datum „632 nach Ford" genähert, wie weit die „Schöne Neue Welt" bereits Gestalt angenommen hätte. Er faßte diese Überlegungen zehn Jahre später —1959 — unter dem Titel „Dreißig Jahre danach" zusammen.

Inzwischen sind weitere 25 Jahre vergangen. Vieles von dem, was Huxley aus schüchternen Ansätzen wissenschaftlicher Forschung erahnte und in seine Horrorvisionen umsetzte, ist zur praktischen Anwendung gediehen, wenn auch noch nicht im „nachfordschen" Ausmaß.

Der Nachwuchs wird nicht in Bokanowski-Serien im Laboratorium gezogen, kann aber bereits„erfolgreich" im Reagenzglas gezeugt und von der „Mietmutter" geboren werden.

Aber sind wirklich die Möglichkeiten der Gen-Manipulation die schrecklichsten Visionen der „Schönen Neuen Welt"? Hätte Huxley sie nicht noch lustvoll ausschmücken können, wäre er im Besitz der Kenntnisse gewesen, die heute fast jedem EDV-Techniker, jedem Werbefachmann, jedem Sozialpsychologen selbstverständlich sind?

Orwells Großer Bruder hätte heute alle technischen Möglichkeiten, aber er lächelt nicht mehr von allen Wänden. Huxleys Weltaufsichtsrat hat diese Allgegenwart nicht nötig. Er und die Macht, die er vertritt, verfügten 1984 zwar erst in Ansätzen über die technologische Welt von „632 n. F.", doch so manche andere Voraussetzung käme ihnen entgegen — in einer Gesellschaft, wo es selbstverständlich geworden ist, alle Pflichten auf „den Staat" abzuschieben, alle Rechte gegen diesen in Anspruch zu nehmen, in einer Gesellschaft, wo es so bequem ist, allen Einflüsterungen zu glauben, statt selbst kritisch darüber nachzudenken. In einer Zeit, da jeder Modegag sicher sein kann, wie ein Rattenfänger seine Anhängerscharen hinter sich herzuziehen, hätte der WAR leichtes Spiel.

„Mittlerweile verbleibt noch immer ein wenig Freiheit in der Welt", schloß Huxley seine Umschau. „Vielleicht sind die Mächte, die heute die Freiheit bedrohen, zu stark, als daß ihnen lange Widerstand geleistet werden könnte. Es ist dennoch unsere Pflicht, alles, was in unseren Kräften steht, zu tun, um ihnen Widerstand zu leisten."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung