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Erste Anzeichen eines Wirtschaftswunders

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Viele Bürger in den neuen deutschen Bundesländern warten nicht tatenlos - wie vielfach behauptet -auf das „Wunder aus dem Westen". Sie haben selbst die Ärmel aufgekrempelt und arbeiten an der Sanierung ihres Landes mit.

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Viele Bürger in den neuen deutschen Bundesländern warten nicht tatenlos - wie vielfach behauptet -auf das „Wunder aus dem Westen". Sie haben selbst die Ärmel aufgekrempelt und arbeiten an der Sanierung ihres Landes mit.

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Nur mühsam ist das tonnenschwere, behäbige Riesending - die Dampflokomotive - in Bewegung zu bringen. Zentnerweise verschwindet „Kohle" im glühenden Rachen des schnaubenden Ungetüms, bis endlich die Kraft ausreicht, die Maschine -anfangs noch langsam, dann schneller und immer schneller - in Bewegung zu setzen.

Ein bildhafter Vergleich, der auf die Volkswirtschaft der ehemaligen DDR jedoch paßt, um das mühsame Unterfangen zu illustrieren, die Wirtschaft dort in Gang zu setzen. Und trotzdem: Die ersten Anzeichen für eine Besserung sind da und damit Grund für Optimismus. Überall wird gebaut, gehämmert, gesägt, gestrichen oder gebohrt. Auf den großen Straßen zwischen Ost und West bewegen sich Tag und Nacht endlose Fahrzeugschlangen. Findet das deutsche Wirtschaftswunder zum zweiten Mal statt? Diese Feststellung ist sicherlich noch etwas zu euphorisch. Aber eines ist sicher: Die staatlichen Finanzhilfen zur Förderung der Infrastruktur und der privaten Investitionen (knapp 100 Milliarden Mark - das ist rund die Hälfte des ostdeutschen Sozialprodukts), beginnen zu greifen.

Auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft ortet den Aufschwung und rechnet für 1992 im Osten des Landes mit einem Wachstum von zehn Prozent. Das braucht nicht zu verwundem, steht doch den neuen Bundesländern und ihren Gemeinden pro Einwohnerzahl fast so viel Geld zur Verfügung wie den alten Bundesländern.

Ost-Produkte sind gefragt

Trotzdem darf die Verantwortung für den Aufschwung nicht allein dem Staat zugeschoben werden, obwohl in Ostdeutschland niemand sonst im nötigen Umfang investieren kann.

Viele Infrastrukturmaßnahmen -zum Beispiel in den Bereichen Telekommunikation, (geplante Investitionen bis 1997 385 Milliarden Schilling), Energie (224 Milliarden Schilling) und Verkehr (84 Milliarden

Schilling) - rentieren sich erst nach Generationen. Ein privater Unternehmer würde in diese Bereiche daher nie Geld hineinstecken.

Allerdings hoffen die Unternehmen, daß sich durch die öffentlichen Investitionen auch ihr Absatz wieder erhöht, denn nach Einführung der D-Mark kauften die Ostdeutschen fast nur noch die langentbehrten Waren „made in West Germany". Das ändert sich jetzt allmählich wieder. „Ichkaufe Ost" propagiert etwa eine Aktion, die gleiche Chancen für Ostwaren fordert, „weil die Produkte Spitze sind, weil Qualität nicht einfach verschwinden darf und weil damit Arbeitsplätze gesichert werden".

Rund 150 Agrarprodukte aus den neuen Bundesländern wurden mit dem Gütezeichen ausgezeichnet und die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) zeichnete dreißig ostdeutsche Fleischereien für die hohe Qualität ihrer Wurst aus. Der Lebensmittelkonzern Edeka hat die Zeichen der Zeit erkannt und erweitert seine ostdeutsche Produktpalette von 200 auf 1.500. Damit nicht genug: 200 ostdeutsche Nahrungsmittel kommen europaweit in den Handel.

In allen Wirtschaftszweigen setzen Investitionen ein. Sind es 1991 immerhin 94 Milliarden Schilling, mit denen sich Banken, Versicherungen, Industrie- und Handelsunternehmen in den neuen Ländern engagieren, beläuft sich das geplante Investitionsvolumen für die nächsten Jahre auf über 490 Milliarden Schilling.

Zwölf Prozent Arbeitslose

All das interessiert die über eine Million Arbeitslosen (zwölf Prozent) und 1,8 Millionen Kurzarbeiter (20 Prozent) natürlich weniger, obwohl auch hier die Wende zum Besseren ausgemacht werden kann. Entgegen den Befürchtungen, daß mit 1. Juli dieses Jahres - dem Auslaufen der Verträge im öffentlichen Dienst -diese Zahlen sprunghaft ansteigen würden, gab es im August um 5.000 Arbeitslose weniger. Bei den Kurzarbeitern fanden 160.000 einen Arbeitsplatz.

Viele Bürger in den neuen deutschen Bundesländern warten zudem keineswegs einfach nur tatenlos auf ein „Wunder aus dem Westen". 400.000 Firmenneugründungen - vor allem Handwerks- und Gastgewerbebetriebe - wurden bis Ende August registriert. Die deutsche Treuhandanstalt, für die Sanierung ehemaliger DDR-Volksbetriebe zuständig, konnte bis Anfang September 3.378 Unternehmen „an den Mann bringen". Erzielter Verkaufserlös: Über 87 Milliarden Schilling. 578.000 Arbeitsplätze wurden damit gesichert.

Dabei spielt sicherlich eine Rolle, daß die wichtigsten Investitionshemmnisse beseitigt werden konnten: Beim Kaufeines Grundstückes, wo man nie sicher sein konnte, ob es nicht jemand anderem gehört, gibt es jetzt eine „Vorfahrtsregelung". Wenn die Eigentumsfrage nicht klar ist, erhält der Investor den Zuschlag, der Alteigentümer wird finanziell entschädigt. Zu den hohen Altlasten - bis vor kurzem ein weiterer triftiger Grund, von wirtschaftlichen Engagements abzusehen - erklärte Außenminister Hans-Dietrich Genscher: Investoren sollten sich nicht abschrecken lassen, Bonn werde dafür finanziell aufkommen.

Grünes Licht also für die Betriebsübernahmen im Osten Deutschlands. Das gilt auch für österreichische Unternehmer, die bestehende Chancen teilweise bereits nutzen, teilweise noch nicht.

Über diesbezügliche „Investitionschancen und -möglichkeiten" informiert die FURCHE in einer ihrer nächsten Nummern.

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