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Erster Bürger auf dem Weg ins 20. Jahrhundert

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Im Urteil der Zeitgenossen und der Nachwelt ist kaum eine europäische Herrschergestal t so umstritten wie Kaiser Joseph II. (1741 -1790). Für die einen ist der erste Habsburg-Lothringer ein großer liberaler A ufklärer und Menschenfreund, der der Glaubenstoleranz zum Durchbruch verhalf die Juden aus dem Ghetto holte und den Intellektuellen Pressefreiheit gewährte; für die anderen ist er ein der Freimaurerei verbundener „Glaubensfeger”, der die Klöster aufhob, dem strahlenden österreichischen Barock ein Ende bereitete und im übrigenseine Rolle als bürokratischer Despot und zynischer Reformer sadistisch genoß. Wie aber war Kaiser Joseph II. wirklich?

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Im Urteil der Zeitgenossen und der Nachwelt ist kaum eine europäische Herrschergestal t so umstritten wie Kaiser Joseph II. (1741 -1790). Für die einen ist der erste Habsburg-Lothringer ein großer liberaler A ufklärer und Menschenfreund, der der Glaubenstoleranz zum Durchbruch verhalf die Juden aus dem Ghetto holte und den Intellektuellen Pressefreiheit gewährte; für die anderen ist er ein der Freimaurerei verbundener „Glaubensfeger”, der die Klöster aufhob, dem strahlenden österreichischen Barock ein Ende bereitete und im übrigenseine Rolle als bürokratischer Despot und zynischer Reformer sadistisch genoß. Wie aber war Kaiser Joseph II. wirklich?

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Niemand fragt nach dem Menschen Joseph, der in Wirklichkeit zutiefst unglücklich, einsam und wehleidig-sensibel war. Als Kind zur Thronfolge dressiert, verlor als 22jähriger seine eigenartige, aber heiß geliebte Frau, wenige Jahre später die einzige Tochter.

15 Jahre lang quälte er sich neben seiner selbstbewußten Mutter als erfolgloser Mitregent und ruinierte sich in einer nur zehnjährigen Alleinregierungszeit körperlich und seelisch durch einen asketisch-fanatischen Lebensstil.

Die Staatsphilosophie des Kaisers basierte auf den großen Ideen seiner Zeit, auf Voltaire, Rousseau und den Naturrechtslehrern; aber im Gegensatz zu anderen Monarchen seiner Zeit hielt er sich Für verpflichtet, diesen Theorien auch in der politischen Praxis gegen tausend Widerstände radikal zum Durchbruch zu verhelfen. Zum Staat entwickelte Joseph eine geradezu erotische Beziehung, an deren Ende aber der totale Zusammenbruch stand.

Er selbst widerrief sein Lebenswerk durch die Zurücknahme fast aller großen Reformen. Er starb als großer Einsamer und Gebrochener in dem Gefühl, ein vergebliches Leben gelebt zu haben. Tod und Leben gewannen aber damit eine geradezu antike Dimension.

Wir leben heute in einer Zeit, in der das „Los von der Geschichte” als Beschleunigungsenergie zu wirken scheint. Nostalgie tröstet da über die vergessene Weisheit kaum hinweg, das nur mehr sehr beschränkt gilt: historia magistra vitae. Die Hoffnung auf eine „offene Geschichte” als Alternative zur Zukunftsgläubigkeit ist noch eine unerprobte Medizin.

So ist auch Vorsicht berechtigt, wenn es darum geht, herauszuheben, was Leben und Wirkung Josephs II. für das 20. Jahrhundert wirklich bedeuten. Sein persönliches Schicksal steht nur als Chiffre für die Relativität des Machbaren. Aber seine Ideen und Weichenstellungen, die nicht rückgängig gemacht wurden, haben in Wirklichkeit die Balkanisierung Mitteleuropas verhindert.

Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hat wohl der technische und wirtschaftliche Fortschritt die europäische Gesellschaft am nachhaltigsten beeinflußt. Anders als in England und Holland war auf dem europäischen Kontinent aber der Feudalismus lange Zeit der bestimmende gesellschaftspolitische Hintergrund.

Innovationen, der Antrieb zu Erfindungen und die praktische Nutzung von Neuerungen setzen zwei Dinge voraus: das Klima einer naturwissenschaftlich-bestimmten Aufklärung und eine „technische” Intelligenz, die Nutzen und Notwendigkeit des „Neuen” erkennt.

Joseph II. hat als erster europäischer Monarch begriffen, daß zuerst ein Emanzipationsprozeß einsetzen müsse, der sich an der Freiheit jedes

Denkens, jedes Erforschens, jedes Erprobens orientierte; aber die Idee der von ihm staatspolitisch verwirklichten Toleranz bedeutete auch eine neue Freiheit für soziale Bewegungen, eine Loslösung von der Scholle, eine Aufhebung der Denk- und Vordenkgebun-denheit.

Karl Marx hat 50 Jahre nach Joseph IL analysiert, daß erst die Liquidierung des Feudalismus Voraussetzung für den qualitativen Sprung der Bourgeoisie war; und daß wirtschaftliches Wachstum an die uneingeschränkte Nutzung der vorhandenen Produktivkräfte gebunden ist. Joseph kannte noch nicht den Typ des Kapitalisten und des Wildwest-Liberalen; er glaubte und suchte noch, vor allem durch den Einsatz des verordnenden Staates im Wirtschaftsgeschehen Wachstum zu erzielen.

Und obwohl er Physiokrat war, wurde er für die österreichische Monarchie doch unbewußt zum Kämpfer gegen die Dominanz von Grund und Boden. Erst die Schwächung des Großgrundbesitzes durch eine einschneie dende Steuerreform und die Befreiung des Bauernstandes von vielfältigen Lasten - vor allem von der Leibeigenschaft - bewirkte die Hinordnung auf den Handels- und Industriestaat.

Die von ihm begonnenen populistischen Maßnahmen bewirkten überdies, daß sich die bäuerliche Bevölkerung im 19. Jahrhundert vom Land in die Stadt bewegte und daß damit eine Reservearmee entstand, die schließlich für den Industrialisierungsprozeß in Mitteleuropa typisch wurde.

Nach Josephs Tod setzt das Biedermeier in Österreich ein. Es ist eine durch und durch bürgerliche Societät, die zur Weltkultur reift. Ihr ökonomischer und gesellschaftlicher Hintergrund ist antifeudal bestimmt und sie ist an der geistigen Freiheit orientiert, gerade weil sie politisch ohnmächtig ist.

Den Samen zur Biedermeierkultur legte Joseph. Er mobilisierte die „Medien” seiner Zeit, die er zumindest zu Beginn seiner Alleinregierungszeit wirksam einsetzte: die „Literaten”, die einem neuen Lesebedürfnis Nahrung gaben.

Sie waren es, denen er die Aufgabe zumaß, eine neue Gesellschaft zu formen; Bildung wurde zur Berechtigung für den sozialen Aufstieg, Mitwirkung an der Schaffung einer neuen Öffentlichkeit zur Bürgerpflicht.

Joseph, der selbst kein homme de lettre sein wollte, machte die Schleusen selbst auf, die in Paris erst die Jakobiner öffneten - er, der Kaiser, der in den

„Literaten” nicht Schöngeister, sondern Vertreter einer politischen Institution sah.

Ja, er verbreiterte noch die Basis des „Räsonnements” durch die Einbeziehung des politischen Theaters. Die „moralische Anstalt” sollte durch Bewußtseinsveränderung Gesellschaftsveränderung bewirken. Und überdies eine Möglichkeit bieten, der deutschen Sprache und der deutschen Kultur zum motivierenden Selbstbewußtsein zu verhelfen. Durch Kaiser Josephs Patro-nage war so eine literarische Revolution gegen die despotischen und krämerischen Kleinfürsten möglich.

Joseph II. ist der erste Monarch, der sich der Idee der Gleichheit, die uns hier als Ideal einer Generation entgegentritt, voll und durchgehend verpflichtet fühlt. Mensch-Sein ist eine idealisierte Parole, das Gute und „Tugendhafte” sucht er nicht unter gekrönten Häuptern und nicht unter dem Adel seiner Zeit, sondern im „Volk”.

Er nähert seine Lebensweise bewußt diesem Volk an, seine Lebensart wird zur Einfachheit des Einfachen reduziert. Er spaziert wie seine Untertanen als Mensch unter Menschen im eröffneten Augarten; und er läßt sich - welcher Exzeß der Gleichheit - mit einem gebildeten Neger, der in Wien aufgewachsen war, Hand in Hand beobachten.

Eine revolutionäre Entwicklung war in Deutschland und den österreichischen Erblanden solcherart vermeidbar, weil man Gleichheit nicht ritualisieren mußte; nicht erst der Tod eines gekrönten Citoyens mußte Gleichheit sichtbar verwirklichen. Mit Joseph war bereits ein Mythos der Gleichheit vorhanden; und die Tragik des Kaisers in den letzten Lebensjahren genügte, ihn bald zur Legende werden zu lassen; ein revolutionärer Exzeß hätte die Legende nicht einmal verstärken können.

Als einziger aufgeklärter Monarch des 18. Jahrhunderts entdeckte Joseph aber auch, daß soziale Sicherheit die andere Seite von geistiger Freiheit und ständischer Gleichheit bilden müßte. Josephs Sozialmaßnahmen, die vor allem bei der Versorgung von Kindern, Invaliden, Witwen und Waisen ansetzten, haben historischen Stellenwert.

Alle diese Maßnahmen mußten Joseph aber nicht abgetrotzt werden; er setzte sie freiwillig, ja gegen den Widerstand der Reaktionäre seiner Generation. So hebt er sich deutlich ab von den „aufgeklärten” Geistern wie Friedrich IL, der sich zeitlebens auf das Junkertum und das Offizierkorps stützte; oder Katharina IL, die den grundbesitzenden Adel sogar noch stärkte.

Die dementia austriaca hatte durch Joseph Voraussetzungen geschaffen, auf Grund derer hundert Jahre später Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik aufbauen konnte. Österreich hat als eines der ersten Länder der Welt öffentliche Wohlfahrtsmaßnahmen gegen die Auswüchse des Liberal-Kapitalismus ergriffen; und die Ideen des Sozialstaates knüpften dort an, wo Josephs Wohlfahrtsmaßnahmen endeten.

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