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Eruptionen

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Wenn ich mich zum Verfassen dieser Rubrik an meine alte Schreibmaschine setze, komme ich in unvermutete Schwierigkeiten: eine wahre Flut von „ östlichen “ Themen stürmt auf mich ein, während ich Mühe habe, auch nur annähernd Aufregendes im Westen zu finden.

Natürlich ist uns das literarische, musikalische Geschehen westlicher Herkunft oder Nichtgeschehen auf dem Theater und in der bildenden Kunst kontinuierlich bekannt. Berichte über das Kulturleben in Moskau, Warschau, Sofia, Bukarest, sogar in Prag und in Budapest hingegen gab es in den westlichen Zeitungen jahrzehntelang nur äußerst selten. Außerdem wußte man nicht, wieweit man ihnen vertrauen konnte.

Sehr oft flüchteten sich westliche Kulturredakteure und mehr noch die Leser in die bequeme Meinung: was dort geschieht, ist ohnedies bloß Kunst und Kultur der Funktionäre, von offizieller Phraseologie und Langeweile. Dies war stets nur teilweise richtig, da es hinter den Kulissen und in den Zimmern der Schriftsteller, der Maler, der Intellektuellen zu jeder Zeit Interessantes zu beobachten gab - worüber aber nur vorsichtig geschrieben werden konnte, um diese Leute nicht zu gefährden.

Vorerst waren es die Emigranten, unter ihnen Alexander Solschenizyn, Andrej Sin-jawski, Lew Kopelew, Wladimir Woinowitsch, Jossif Brods-kij und manche andere, die ahnen ließen, was sich auf der „anderen Seite“ tatsächlich kulturell im Hintergrund und Untergrund begab. Heute finden dort kulturelle Eruptionen statt. Man kann diese Phase derzeit nur mit der unmittelbaren Nachkriegszeit im Westen vergleichen, als Persönlichkeiten wie Jean-Paul Sartre, Gabriel Marcel, Paul Claudel, Georges Bernanos, T.S. Eliot, Karl Popper, Raymond Aron, Manes Sperber, Karl Jaspers, Heinrich Boll, Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Heimito von Doderer und viele andere auf den Plan traten.

Gleichzeitig waren die Werke bereits Verstorbener erstmals bekannt, wie jene von Franz Kafka und Robert Musil. Thomas Mann, Hermann Hesse, Elias Canetti veröffentlichten neue Bücher. Sie alle entfachten heiße Diskussionen, die in Zeitschriften und Zeitungen in Fortsetzung publiziert wurden. Ähnliches geschieht derzeit im „Osten“. Der Damm des Schweigens ist gebrochen.

Sollte es wundern, daß der Beobachter des kulturellen Geschehens sich der Themen nicht erwehren kann? Mein Hauptthema hingegen könnte sein: der westliche Provinzialismus von Selbstgefälligkeit und Belanglosigkeit, der die Herausforderung des Ausbruchs und Aufbruchs im Osten vorerst verschläft.

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