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Erwin Chargaffs neuer Rundumschlag

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Skeptischer, ironischer, zorniger und brillanter (und das will etwas heißen) als in seinem jüngsten Buch hat sich der bedeutende österreichische Biochemiker Erwin Chargaff noch nie von der Seele geschrieben, was ihn bedrängt. Die Essays des Bandes „Vermächtnis" sind eine einzige Philippika gegen den hypertrophen Wissenschaftsbetrieb. Die folgenden Auszüge sprechen besser für dieses Buch als die beste Besprechung.

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Skeptischer, ironischer, zorniger und brillanter (und das will etwas heißen) als in seinem jüngsten Buch hat sich der bedeutende österreichische Biochemiker Erwin Chargaff noch nie von der Seele geschrieben, was ihn bedrängt. Die Essays des Bandes „Vermächtnis" sind eine einzige Philippika gegen den hypertrophen Wissenschaftsbetrieb. Die folgenden Auszüge sprechen besser für dieses Buch als die beste Besprechung.

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Jede Spezialität, auch fast nicht mehr teilbare Supspezialitäten, besitzt ihre eigene Vereinigung, veranstaltet Kongresse, Symposien, Konferenzen, zu welchem Zwecke vom Steuerzahler subventionierte Reisen in entlegene Gegenden unternommen werden. Das dort vorgetragene Zeug, das niemand anhört, wird dann in Büchern, die niemand liest, gedruckt...

Fachleute müssen erzogen werden, und so sind die Universitäten und anderen höheren Schulen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu einer Größe angeschwollen, die man früher nicht für möglich gehalten hätte. Das hat den Charakter dieser Anstalten völlig verändert: sie gleichen Gewerbeschulen, unterscheiden sich jedoch von diesen dadurch, daß die an ihnen jetzt Lehrenden unter starkem Publikationsdruck stehen und daher den hauptsächlichen Beitrag zu der wachsenden Masse sogenannter wissenschaftlicher Arbeiten leisten. (S.30)

Nach reiflicher Erwägung werden gewöhnlich die größten Schandtaten begangen. Daß sie oft noch kürzere Beine haben als die Lügen, die sie begleiten, trägt zum ästhetischen Vergnügen nicht bei. (Ich schreibe das, während die uralte Stadt Bagdad aus der Luft zerstört wird. Menschen kommen dabei nicht um, weil die Bomben mit „chirurgischer Präzision" placiert werden. Selbst der von Horaz unsterblich gemachte Jude Apella, ein bekannt leichtgläubiger Mann, glaubt es nur für dreizehn Milliarden Schweigegeld.) (S. 35)

Dieses rührende biblische Bild erweckt übrigens in mir die Vorstellung vom Jüngsten Gericht als einem riesigen Computer; ein jeder steckt seine persönliche Mißkreditkarte in den Schlitz, auf deren magnetischem Streifen Tat und Untat registriert sind, und heraus kommt die Rechnung. Hoffentlich ist der elektronische Rechnungsengel verläßlicher als was einem heutzutage in Ämtern, Banken und Geschäften begegnet. (S. 48)

Eines der neudeutschen Wörter, die ich mit besonderer Abneigung betrachte, ist das Wort „Sachzwang"... Wörter erscheinen, wenn neue Vorstellungen, ungewohnte Bedingungen, manchmal jedoch auch modische Trotteleien sie erfordern. Aber Sachen hat es wohl immer gegeben, seit der Urmensch über einen Kiesel stolperte und seine Mitprimitiven mit einem schlechtgemeinten „Hopsa!" ihrer Befriedigung Ausdruck gaben. Woher kommt es also, daß das unangenehme Wort erst in den später siebziger Jahren das lexikalische Licht erblickte? Gäbe es wirklich so etwas wie einen durch Sachen ausgeübten Zwang, so hätte die Sprache es lange vor unserer Zeit ausgedrückt. Ich schließe - ganz gegen meine Gewohnheit, nämlich ausnahmsweise als Reduktionist -, daß das Wort nichts ist als eine faule Ausrede, ein naives Denksurrogat für Politiker und ähnliche Leute, die oft Gelegenheit haben, einen weiteren Bogen uni ihr eigenes Gewissen zu machen. Das Wort 7tSachzwangn ist eine Lähmungserscheinung. (S. 162) *

Ich weiß nicht, wie viele es einsehen, daß, wenn sie so weitergeht, die Forschung immer mehr Forschungssklaven benötigen wird. Man wird dem Handlanger zeit seines Lebens vorschreiben, worüber er arbeiten darf, und der Wert seiner Resultate wird nicht nach ihrer intellektuellen Wichtigkeit, sondern nach ihrer Gangbarkeit, ihrer Verkäuflichkeit beurteilt werden. (S. 170)

Wenn jemand jetzt unterscheiden will zwischen der immer edlen Forschung und ihrer oft tadelnswerten Ausnützung, so erinnert mich das an die Geschichte von dem Mann, dem es gerade gelungen war, seinem Pferd das Fressen abzugewöhnen, als es starb. In den mir zugänglichen Disziplinen werden die meisten Forschungen nur zwecks sofortigen Verschleißes ausgeführt. Keine Gentechnologie ohne Impresario, keine Transplantation ohne Barkapital. Ein AIDS-Forscher braucht nur zu krähen, er wolle den Staatsdienst verlassen, weil er in der Privatindustrie viel mehr verdienen könne; und schon erscheint - ganz anders als einst dem Belsazar -die Leuchtschrift auf dem Fernsehschirm, und sie sagt „Man hat dich in einer Waage gewogen und zu leicht gefunden. Daher wird dein Gehalt verdoppelt." (S. 210)

Es wäre interessant, die Antworten eines Krawattenhändlers und eines Molekularbiologen zu vergleichen, wenn man sie nach ihren Zielen fragt. Jener wird wahrscheinlich nicht sagen, daß er die Welt verschönern, dieser aber gewiß, daß er sie retten wolle. Wer ist ehrlicher? Je verschwommener das Ziel, desto dicker der Schleier. (S. 246)

Dazu kommt noch, daß die Naturforschung unglaublich teuer geworden ist. In Amerika verschlingt sie viele Milliarden im Jahr, deren Großteil aus Steuergeldern kommt. Dennoch hört man nicht den geringsten Protest, wie er sich sofort erhebt, wenn es um Fragen der Wohlfahrt geht, um Arbeitslose, Obdachlose, kranke Kinder, Blinde und so weiter. Die Rolle der Inquisitoren oder der Exorzisten in der Kirche der alten Zeit wurde damals gewiß mehr in Frage gezogen als jetzt die Gültigkeit der Forschung.

Dabei hat es sich bereits in weiten Kreisen herumgesprochen, daß dem Segen, den uns Forschung und Technik gebracht haben, ebenso viel oder noch mehr Unheil gegenübersteht. Die Versicherung von Seiten der Naturwissenschaften, daß nur sie selbst den von ihnen verursachten Schaden beheben können, stößt auf immer mehr Skepsis. Allerdings ist unser wissenschaftliches Zeitalter auch das lethargischeste, das müdeste der Zeitalter, dem die Tatkraft des einzelnen geschwunden zu sein scheint. (S. 248)

VERMÄCHTNIS. Von Erwin Chargaff. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1992. 292 Seiten, Ln. öS 296,-.

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