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Erziehung der Kinder Aufgabe der Familie

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Wie muß ein Bildungssystem organisiert und gestaltet werden, damit es den Menschen nicht durch scheinbar pädagogische Hilfsmaßnahmen so an gesellschaftliche Vormundschaft bindet, daß er süchtig für Betreuung und Bevormundung wird? Wie kann das Büdungssystem auch als öffentliche Einrichtung möglichst gute Voraussetzungen dafür schaffen, daß die in ihm erzogenen Menschen urteilsfähig und mündig werden, vorurteilsfrei denken und in selbständiger Verantwortung handeln?

Diese Frage - und das ist wohl kein Zufall - muß auch aufkommen bei der Diskussion um Ganztagsschule oder Tagesheimschule. Die beiden Schulformen sollen der besseren Bildungsförderung der Kinder dienen. Diese Erwartung ist von der Vorstellung bestimmt, daß erweiterte Schulzeit für,die Bildung des Kindes förderlicher sei als das Leben in der Familie, in seinen nichtorgani-sierten und institutionalisierten Formen.

Die SPÖ favorisiert die Ganztagsschule; in ihr wird der Unterricht über den ganzen Tag verteilt, unterbrochen von Freizeit- und Erholungspausen, direkt und indirekt gelenktem Tun der Kinder. Die ÖVP befürwortet die Tagesheimschule. In ihr ist der Vormittagsunterricht von der Nachmittagsbeschäftigung getrennt. Die Teilnahme an den Nach-mittagsveranstaltungert ist freiwillig und nicht Voraussetzung für die kontinuierliche Mitarbeit am planmäßigen Unterricht.

Für eine ganztägige Betreuung der Schüler werden mehrere Vorteile genannt: Von beiden Formen wird erwartet, daß die Zahl der Repetenten sinkt; die sozialen Kontakte werden zu Kindern der verschiedenen sozialen Schichten geknüpft, wieder kann 1 ein Stück größerer Chancengleichheit verwirklicht werden.

Da diese Erwartungen mit beiden ganztägigen Schularten verknüpft werden, scheint auch der parteipolitische Gegensatz nicht unüberwind-bar. Dennoch muß man sich fragen, ob mit einem forcierten Ausbau jener Schulen der Bildung junger Menschen tatsächlich die besten Bedingungen geschaffen werden.

Die Sorge um soziale Gerechtigkeit, um die Senkung der Repetentenquote, um soziales Verstehen ist berechtigt; ebenso aber auch die Sorge um jene Bildung zur selbständigen Persönlichkeit, die nicht dem Druck von Gruppennormen erliegt, die den Verlockungen des Zeitgeistes ebenso widersteht wie denen des Inhabers der politischen Macht; die also den Mut und die Fähigkeit zu eigenem unbestechlichem Urteil hat.

Deshalb sollte man sich hüten, Bedenken gegenüber jenen Reformvorschlägen sofort als unsozial, unpädagogisch oder als Prinzipienreiterei zu diffamieren, sondern sie als Anlaß zum Bedenken verantwortlicher Reformen ergreifen.

Je mehr unsere Kinder in einer künstlich organisierten Welt aufwachsen, desto mehr begegnen sie nur noch einer vorsätzlich selektierten Welt. Der Erfahrungshorizont wird reduziert; er ist abhängig vom Willen des Veranstalters, abhängig von Lehrplänen und institutionell begrenztem Lebensausschnitt. Die Fülle nicht voraussehbarer, nicht vorausberechenbarer Herausforderungen und Möglichkeiten ist künstlich eingeschränkt.

Die Gefahr ist groß, daß der junge Mensch auf ein vorprogrammiertes Verhalten trainiert wird. Spontane Kreativität, verantwortliches Entscheiden und Handeln in unberechenbaren Situationen wird kaum gelernt. Persönlichkeitsentfaltung wird reduziert auf ausgewählte, gewünschte Verhaltensmuster und deren Einübung. Diese Reduktion der Bildung macht gegenüber der nicht durch das Programm eingeübten Herausforderungen hilflos. Betreuung wird auf Grund eingeschränkter Mündigkeit notwendig.

Das gilt auch für den Bereich der sozialen Erfahrung. Ganztägige Schulformen reduzieren sie in ihrer Institutionalisierung auf gelenkte und selektierte Begegnungsmöglichkeiten. Der alte oder kranke Mensch verschwindet weitgehend aus der Erfahrungswelt des jungen Menschen. Das Verhältnis der verschiedenen Generationen als Herausforderung und Hilfe gleichzeitig wird nicht erlebt. Stattdessen wird ein Bereich homogenisierter Erfahrungen „geschaffen, mit denen junge Menschen leicht auf gewünschte Verhaltensweisen gleichgeschaltet werden.

Von den Verfechtern der Ganztagsschule wird gegenüber diesen oder ähnlichen Einwänden das zunehmende Bedürfnis der Eltern geltend gemacht. Die Berufstätigkeit der Mutter, der Funktionsverlust der Familie, ihre zunehmende Erziehungsschwäche sei nicht zu übersehen. Ohne Ganztagsschule würden viele Jugendliche auf der Strecke bleiben.

Es mag durchaus sein, daß die Errichtung jener Schulformen angesichts der gegenwärtigen Situation unausweichlich ist. Zumindest sollte man sich dann bei den Schulversuchen auch die Frage stellen, ob denn in diesen Schularten selbständiges Denken ausdrücklich gefördert wird, wie man sie einzurichten hätte, damit solche besonders gut ermöglicht werde. Dieses wäre aber kaum mit den Mitteln der bisherigen Schulversuche zu leisten - wenngleich von allen die „Maßgeblichkeit“ des mündigen Menschen anerkannt wird. >

Eine langfristige Schul- und Bildungsreform müßte aber auch bedenken, ob diese Situation nicht zu ändern wäre: Zu sorgen, daß die Erziehung der eigenen Kinder in der Familie wieder als hochwertige Aufgabe gesehen wird, daß die Steigerung des Sozialprodukts nicht als höchstes Ideal ungefragt anzuerkennen sei. Vielleicht ist es viel sozialer, der Familie, den Eltern selbst bessere Möglichkeiten - vor allem in ökonomischer und sozialer Hinsicht - zur Wahrnehmung ihrer erzieherischen Aufgabe zu bieten.

Wenn man nicht bereit ist, darüber nachzudenken, muß man sich zumindest die Frage gefallen lassen, woher denn das große Mißtrauen der Bürger stammt, gegenüber der Behauptung, daß staatliche Institutionen die besseren Erzieher seien.

Schließlich muß man sich fragen lassen, ob es nicht doch ein geheimes Interesse der jeweils Herrschenden gibt - diesen vielleicht nicht einmal bewußt -, den Anspruch der Mündigkeit in der Praxis nicht zu groß werden zu lassen. Mündige Bürger können unbequem werden, lästige Fra-? gen stellen. Der betreute Mensch ist bequemer. Er hat sein kritisches unabhängiges Bewußtsein gegen seine soziale Wohlfahrt eingetauscht. Das kann aber weder im Namen der Bildung gewollt noch für eine lebendige Demokratie förderlich sein.

(Der Autor, Ordinarius fiir Päd--agogik an der Universität Wien, wird in loser Folge weitere Überlegungen zur Frage „Der betreute oder der mündige Mensch?“ beisteuern.)

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