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Digital In Arbeit

Erziehung ist kein Hochleistungssport

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Fünfhundert Anmeldungen zur „42. Internationalen Pädagogischen Werktagung ” in Salzburg konnten aus Platzgründen nicht berücksichtigt werden. Auch heuer war die Tagung bereits Ende April ausverkauft. Ein überwältigender Erfolg der Veranstalter? Oder Zeichen für die zunehmende Hilflosigkeit und Überforderung der Pädagogen?

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Fünfhundert Anmeldungen zur „42. Internationalen Pädagogischen Werktagung ” in Salzburg konnten aus Platzgründen nicht berücksichtigt werden. Auch heuer war die Tagung bereits Ende April ausverkauft. Ein überwältigender Erfolg der Veranstalter? Oder Zeichen für die zunehmende Hilflosigkeit und Überforderung der Pädagogen?

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Läßt sie die unbeschwerte Lust am Neuen die Büchertische mit Erziehungsratgebern plündern oder ist es nicht doch die geheime Hoffnung auf „Rezepte”, die Hundertschaften von Lehrenden und Erziehenden in Seminare und auf Tagungen treibt?

Vier Jahre „harter Arbeit”. Dann ist es endlich erreicht: Die Lehrerin läuft weinend aus der Klasse. Der deutsche Familienberater Jan-Uwe Rogge erzählt, wie dieser Schüler die „Toleranz-Grenze” seiner Lehrerin erreichte: Er hat in eine Ecke des Klassenzimmers gepinkelt. „Mußte sein”, habe der Schüler beteuert: „Die hatte doch für alles Verständnis! Bei der wußte man doch nie, wann sie sauer auf mich oder auf die Klasse war.”

Jan-Uwe Rogge zeichnete in seinem Referat bei der „42. Internationalen Pädagogischen Werktagung” in Salzburg ein paradoxes Bild: „Während manche Eltern die Erziehungsleitbilder von Freiheit und Selbständigkeit als die Abwesenheit von Grenzen und Regeln mißverstehen, suchen Kinder mehr denn je nach klaren und festen Leitfiguren, an denen sie sich orientieren und reiben können.”

Warum wagen es viele Eltern und Erzieher nicht, klare Grenzen zu setzen? Auffällig sei, so Rogge, die negative Besetzung des Begriffs „Grenze”: Strafe, Züchtigung, Moralpredigt, ständiges „Nein” würden mit dem Begriff „Grenze” assoziiert.

Grenzen sind wichtig

„Dahinter versteckt sich ein hohes Maß an pädagogischer Handlungsunsicherheit und fehlendem Selbstwertgefühl. Diese negative Sicht von „Grenze” zeugt von nicht vorhandenem Vertrauen in eigene Fähigkeiten und vom Wunsch nach allgemeingültigen Normen und Werten - nach praktikablen Rezepten”.

„Nur wenn Kinder Festigkeit fühlen - abernicht: erleiden! -, gewinnen sie Orientierung”, betonte der Familien- und Kommunikationsberater in seinem Vortrag. Kinder wollen wissen, woran sie sind. „Wo Grenzen fehlen, herrscht Unsicherheit, fangen Kinder an, Grenzen auszutesten, um endlich zu erfahren, wie weit sie gehen dürfen.”

Es ist und bleibt eine Gratwanderung: „Kindern Freiheiten für ihre kognitive und emotionale Entwicklung zu gewähren, darf nicht zur elterlichen Selbst-Aufgabe führen”. Rogge plädiert für den Mut zur unvollkommenen Erziehung. Wenn man sich zwingt, immer lieb, tolerant und verständnisvoll zu sein, wird „Erziehung zum Hochleistungssport”.

Auch die Psychologin und Psychotherapeutin Irmtraud Ramstorfer betonte in einem Gespräch mit der FURCHE, wie notwendig es für Kinder sei, Grenzen zu erfahren: „Ein Kind spürt sehr genau, daß etwas nicht stimmt, wenn die Mutter nach der fünften Ermahnung immer noch lieb ist.”

Keine Angst vor Konflikten

Barbara Reisel, Mitarbeiterin an der psychosomatischen Ambulanz an der Universitäts-Kinderklinik in Wien, bestätigt: „Ein Kind muß die Erfahrung machen: Man darf streiten, aber danach ist die Mutter wieder gut. So können Kinder ohne Angst mit Konflikten umgehen lernen.” Beide Psychologinnen sind mit Jan-Uwe Rogge einig, daß es für den Erwachsenen notwendig ist, zu überlegen: „Was brauche ich als Mutter oder Vater um „wieder gut” zu sein?” Auch sie ermuntern Eltern in Beratungsgesprächen, zu ihren Toleranz-Grenzen zu stehen.

Der Aufruf, zu sich selbst, mit allen Ängsten, Hoffnungen und Grenzen zu stehen, war wohl einer der Fixpunkte dieser Tagung. Jan-Uwe Rogge nannte es „Mut zur Unvollkom-menheit”. Irmtraud Ramstorfer bezeichnete es mit „authentisch” sein. Hanna Barbara Gerl-Falkovitz, Professorin für Philosophie in Weingarten am Bodensee, sprach in ihrem Eröffnungsreferat vom Ideal eines „identischen Menschen”, der imstande sei, „seine Grenze zum Gesetz seiner Vollkommenheit” zu machen. Die Verwirklichung dieser Forderung könnte vielleicht wirklich viele Probleme aus der Welt schaffen. Aber kann man einem Menschen sagen: „Sei zufrieden mit dir und deinen Fehlern”, wenn er es nicht ist? Eine Vermutung: Die Werktagung 1994 ist wieder im April ausverkauft.

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