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Erziehungsideal Mitmenschlichkeit

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„Worte können Heilmittel sein, Menschen retten, sie vom tödlichen Abgrund zurückreißen; sie können indessen auch Mordwaffen sein", meint Manes Sperber und wendet sich dabei insbesondere an Erzieher, Eltern wie Pädagogen. Gerade in Zusammenhang mit Beginn des neuen Schurjahres erhalten seine Überlegungen ganz besondere Aktualität.

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„Worte können Heilmittel sein, Menschen retten, sie vom tödlichen Abgrund zurückreißen; sie können indessen auch Mordwaffen sein", meint Manes Sperber und wendet sich dabei insbesondere an Erzieher, Eltern wie Pädagogen. Gerade in Zusammenhang mit Beginn des neuen Schurjahres erhalten seine Überlegungen ganz besondere Aktualität.

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Der Mensch ist nicht nur fähig, sich zu irren, sondern er bleibt sein Leben lang unfähig, sich nicht hie und da zu irren. Wir alle sind auf Toleranz angewiesen und haben sie zu gewähren in der Gewißheit, daß niemand in allem, niemand immer recht hat. Die prinzipientreue, intolerante, autoritäre Erziehung macht sich somit eines doppelten Vergehens schuldig:

Sie behauptet irrtümlich, immer recht zu haben, und bestreitet \mit Berufung darauf allen anderen, vor allem aber dem Zögling, das Recht auf Irrtum. Dieses Recht aber ist für uns alle lebenswichtig; es ist im Sinne wahrer Humanität unabdingbar und unverbrüchlich. Und dies gilt ganz besonders für den gesamten psy-cho-pädagogischen Bereich.

Der Erzieher, der gemäß un-serm Prinzip das Subjektive als objektiven Faktor anerkennt, und sich auch deshalb der üblichen Vulgärpsychologie ■ entraten kann, beurteilt den Zögling nicht gemäß den Eigenschaften: gut

oder schlecht, fleißig oder faul, aufrichtig oder lügnerisch, sondern sucht die verifizierbare Einsicht in dessen ChaYakter und in die ihm bewußten oder unbewußten Beweggründe seiner spontanen Reaktionen oder seines passiven Versagens.

In der Beurteilung allen Verhaltens wird dieser Erzieher, im Gleichnis gesprochen, zwischen dem Körper und dem Schatten, den dieser wirft, scharf unterscheiden. Und das heißt: im Sein die Quelle des Scheins, im Schein eine Ausdrucksform des Seins, insbesondere aber das individuelle Bezogensein erforschen.

Für ihn wird der Irrtum nicht eine Lüge und nicht ein Unfall der Logik sein, sondern sehr oft der Selbstverrat eines unbewußten Strebens oder eines umwegigen Widerstandes.

Viele Erzieher, Eltern wie Pädagogen, die sich der großen Anforderung und der vielfachen Schwierigkeiten ihrer erzieherischen Aufgabe stets bewußt sind, werden oft genug Opfer eines Unsicherheitsgefühls, das sie nur schwer oder gar nicht überwinden können: Sie fühlen sich von Irrtümern umstellt, von ihnen gleichermaßen verlockt und gefährdet. Ihnen ist es häufig, als müßten sie täglich über verminte Felder schreiten, um ein Ziel zu erreichen, das sich immer wieder zu entfernen scheint.

Von der Vollkommenheit hie und da zu träumen, sich im Großen wie im Kleinen der eigenen Vollendung nahe zu fühlen, diese Neigung ist wohl unvermeidlich. Jedoch bleibt das sicherste Unterpfand unserer Menschlichkeit der Mut zur Unvollkommenheit, der Mut, einen Fehlschlag rechtzeitig zu erkennen, zum Ausgangspunkt zurückzukehren und einen neuen Pfad zu beschreiten.

Die Unvollkommenheit ist unser aller Geburtsfehler und so unvermeidlich wie am Ende unser Tod. Sie ist aber zugleich die größte, die fruchtbarste Gabe, die die Natur dem am Anfang lebensunfähigsten aller Säugetiere verliehen hat: Um lebensfähig zu werden, müssen wir fortlaufend unsere biologische Unzulänglichkeit überwinden, kompensieren, überkompensieren.

So werden wir die einzigen historischen Lebewesen auf Erden, weil wir Mittel anwenden, um die Reichweite und Wirkungskraft unserer Organe ständig zu erweitern, unsere Existenz in vernünftiger Vorsicht und Voraussicht zu schützen.

Natürlich bleiben wir trotz allem der conditio humana verhaftet, denn unsere Ansprüche an die Vollkommenheit übertreffen bei weitem unsere Fähigkeit, sie ein für allemal zu erringen.

Das gilt für den Philosophen so gut wie für den Psychologen, für den Erzieher wie für den schöpferischen Künstler — es gilt ausnahmslos für uns alle. Sich damit abzufinden, heißt nicht Verzicht leisten, sondern im Gegenteil die Richtung beibehalten, in der man sich der Vollendung annähern mag — im keineswegs lähmenden Bewußtsein, daß man sie nie erreichen wird.

Alle Erziehung muß von Schwierigkeiten ausgehen, die jegliche Beziehung zwischen den Individuen immer wieder hervorruft. Von hier aus versteht man, daß die Psychopädagogik den autoritären Erzieher auch deshalb ablehnt, weil er sich gewöhnlich so verhält, als ob er selbst die Vollkommenheit erreicht hätte und unfehlbar wäre, als ob er stets in allem recht hätte.

Die Pädagogik aber, die wir meinen, vergißt nie, daß jede Beziehung zwischen Menschen, nicht nur die zwischen den Generationen und zwischen Mann und Frau, sondern auch die zwischen Gleichen und zwischen Ungleichen, sei es im guten, sei es im schlechten Sinne erzieherisch wirkt. Es handelt sich da um eine unvermeidliche, jedoch selten ausgewogene Gegenseitigkeit.

Der kluge Erzieher merkt sehr

früh und vergißt niemals, daß der Zögling seinerseits, ohne es zu ah-, nen, auf ihn eine Wirkung ausübt, die positiv oder negativ erzieherisch ist. Die Heilpädagogen und die Psychotherapeuten erfahren das beinahe in jedem Falle aufs eindringlichste, ihr Charakter ist täglich nicht weniger auf die Probe gestellt als ihre Fähigkeit zu helfen.

Wer diesem Sachverhalt Rechnung trägt, verzichtet leichten Herzens auf die trügerischen Erfolge der autoritären Erziehung. Natürlich geht es nicht darum, auf die Autorität des Wissens, der Erfahrung, des Könnens zu verzichten, die so wohlbegründet und un-abschaffbar ist wie die Tatsache, daß 2X2 vier ist. Diese Autorität aber ist traditionell oft mißbraucht worden, und das geschieht auch heute noch, insbesondere, dadurch, daß der Lehrende sie für seine Person anstatt für sein Wis-sei beansprucht.

Der Unterschied der Worte

Auf ebensolcher Verwechslung beruht nun die Überheblichkeit der geltungs- oder herrschaftssüchtigen Erwachsenen, die sich als Schöpfer aller Wahrheiten präsentieren, indes sie nur Ubermittler, Überbringer einer Botschaft, einer Erbschaft sind, die sie selbst einmal erhalten haben.

Die Übermittlung von Wissen und Können, das heißt der Unterricht, ist ja ein Teil der Erziehung, .die Kinder und Halbwüchsige befähigen soll, sich gegenüber ihrer Umwelt und später in allen Verhältnissen vernünftig, in richtiger Selbsteinschätzüng zu behaupten.

Spätestens seit Sokrates weiß man, daß der Erzieher wie der Lehrer dafür sorgen muß, daß def Zögling auf einer gemeinsamen Ebene heimisch werde, auf der keiner dem andern Objekt ist; der/ Wissende wie der Unwissende sind da gleichermaßen Fragende, die im Zwiegespräch gemeinsam Antworten suchen. Und der Indi-vidualpsychologe vergißt niemals, daß niemand es erträgt, dem andern nur Objekt, stets unterle-

gen und ein Jasager zu sein.

Die nichtautoritäre Erziehung, die mit der sogenannten antiautoritären keineswegs verwechselt werden darf, stellt an den Erzieher die Forderung, sich von Anbeginn an den Verstand des Kindes zu richten und an dessen so labiles Selbstwertgefühl. Es handelt sich keineswegs darum, die Komödie der Gleichheit zu spielen, sondern den Mut zur Gleicheit zu erwek-ken, ihn fordernd zu fördern. Gemeint ist der Mut, einer von vielen zu sein.

Auf das erste oder wiederholte Versagen des Kindes reagiert der unpsychologische Erzieher vorwurfsvoll und entwertend: „Du verstehst es nicht, du bist zu blöd." Ein klügerer Erzieher ruft in solchem Falle gleichsam erstaunt aus: „Ich verstehe gar nicht, wie ein so gescheiter Junge wie du sowas nicht sofort kapiert."

Ach, der Unterschied besteht nur in Worten, aber die Verbindung zwischen Menschen vollzieht sich zumeist ja nur in Worten. Fast jeder, der sich seiner frühen Jahre zu erinnern sucht, findet ermutigende oder entmutigende, vielleicht gar demütigende Worte wieder, die ihn so beeindruckt haben, daß ihm deren Wirkung selbst nach Jahrzehnten gegenwärtig bleibt.

Worte können Heilmittel sein, Menschen retten, sie vom tödlichen Abgrund zurückreißen; sie können indessen auch Mordwaffen sein. Das wissen wir alle, und trotzdem gebrauchen wir sie zuweilen so leichtfertig, als ob wir damiV nur unsern heißen Hauch auf eine kalte Fensterscheibe ausatmen wollten. Das ist nicht unvermeidlich, und es gibt keine Zauber mittel, die uns instand setzen könnten, stets auf dem höchsten Niveau unserer Ansichten und unseres Verantwortungsbewußtseins zu handeln.

Jedoch gibt es einen psychologischen Kunstgriff, dessen Anwendung nicht immer leicht, aber in allen schwierigen Situationen vonnöten ist: sich mit dem andern identifizieren, sich vorstellen, daß man die Tat, die man ihm vorwirft, in der gleichen Situation vielleicht selbst verübt hätte,

kurz: einen Augenblick lang die trennende „Alterität" abschaffen, den Abgrund des Andersseins überspringen.

Dem Psychologen ist die nichtautoritäre Erziehung noch etwas anderes und weit mehr als nur die Nichtanwendung der Autorität; sie ist eine schöpferische Bemühung um ein Wir, in welchem die Bezugspersonen sich gemeinsam, miteinander und nicht gegeneinander behaupten. Die autoritäre Erziehung bringt Nebenmenschen hervor, indes die psychologische, unautoritäre, die wir meinen, Mitmenschen hervorbringen will.

Mutlose Personen werden nicht Mitmenschen, stets um sich selbst besorgte, ängstliche Individuen bleiben, übermäßig anspruchsvolle Nebenmenschen. Wer in der Aggressivität oder in bedingungsloser Botmäßigkeit oder in einem schrankenlosen Negativismus Schutz und Sicherheitsgefühl sucht, der wird kein Mitmensch. Und wir erfahren es täglich aus nah und fern, daß die Erde weit mehr von Nebenmenschenais von Mitmenschen bewohnt ist.

Auch das ist ein Grund, warum die Welt nicht aufhört, gleichermaßen gefährdet und gefährlich zu sein. Nichts von alledem, worüber man heute lauter und wehleidiger als je zuvor klagt, ist neu.

Sokrates lehrte jeden, den er erreichen konnte, daß die Tugend lehrbar ist. Man weiß, wie schlecht es ihm vergolten worden ist. Wir sind Sokratiker, nicht nur weil wir als Psychologen gleich jenem Weisen die erzieherische Wirkung des Dialogs anerkennen, sondern weil wir ganz nüchtern an die Lehrbarkeit der Mitmenschlichkeit und der positiven Gegenseitigkeit im Verhalten -glauben.

Dieser Beitrag zitiert auszugsweise aus dem Vortrag „Die Erziehung im Jahrhundert der Psychologie", den Manes Sperber im Juli vor der Internationalen Pädagogischen Werktagung in Salzburg gehalten hat.

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