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Es existieren drei Europa

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Erfreuliche Ereignisse der jüngsten Zeit haben den Eisernen Vorhang geöffnet, damit aber noch lange nicht das wirtschaftliche Ungleichgewicht behoben. Weltwirtschaft ist Wettbewerb auf Märkten zwischen Staaten. Da gibt es heute eindeutige Sieger und Verlierer.

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Erfreuliche Ereignisse der jüngsten Zeit haben den Eisernen Vorhang geöffnet, damit aber noch lange nicht das wirtschaftliche Ungleichgewicht behoben. Weltwirtschaft ist Wettbewerb auf Märkten zwischen Staaten. Da gibt es heute eindeutige Sieger und Verlierer.

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Zur Charakterisierung dieser polit-ökonomischen Dynamik wäre es ungenügend, das offenbar gewordene Dilemma der Oststaaten als Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus zu bezeichnen. Es ist vielmehr die Überlegenheit eines ganzen „historischen Komplexes", der lange gewachsen ist, zutage getreten: Im Westen war ein wirtschaftlich motivierter Wettbewerb bei stets dezentraler Machtverteilung wirksam gewesen, der im Kulturellen auf Effizienzstreben, Individualismus und Rationalismus aufbaute, bei politischem Gleichheitsanspruch, Bemühen um Legitimität auf breiter Basis sowie einem ideologisch wenig beengten Pragmatismus.

Die Staaten dieses historischen westlichen Systems sind deshalb gegenwärtig wirtschaftlich und sozial das Zentrum der Weltgesellschaft, mit effizienter Ökonomie, echten Preisen, harter Währung und einer humanen Rechtsordnung in einem demokratischen politischen System. Was Europa betrifft, gehören zum Zentrum: Belgien, BRD, Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Italien, Holland, Norwegen, Österreich, Schweden und die Schweiz (auch Luxemburg und Island).

Geographisch sozusagen ein „fruchtbarer Halbmond" um den Kontinent. In dieser Großregion weisen auch alle Sozialindikatoren zur Wohlstandsmessung signifikant höhere Werte auf als im Rest. Gegenüber diesen Staaten zeigt das Feld ostmitteleuropäischer Länder, vom Baltikum bis Jugoslawien ein time-lag (zeitlicher Rückstand) der Entwicklung von vielleicht 20 bis 30 Jahren.

Zur Beurteilung dieser Situation muß bedacht werden, daß Generationen „falsch sozialisiert" wurden. (In der UdSSR sogar jahrhundertelang.) Arbeit brachte keinen Ertrag. Immer schon stand zuviel Kaufkraft zuwenig Gütern gegenüber. Es war daher sinnlos, mehr oder besser zu arbeiten - außer in der Schattenwirtschaft. In Polen entsprang beispielsweise der Alkoholismus genau diesem Dilemma: wo die Löhne junger Arbeiter relativ hoch waren, langlebige Wirtschaftsgüter aber unerreichbar blieben, wurde die Kaufkraft deshalb nur für Alkohol verwendet.

An der Semiperipherie

Das alles veranlaßt zu Zwischenüberlegungen: Personen, die in diesem System durch Jahrzehnte in unproduktiver Wirtschaft tätig waren, werden Mühe haben, einen regulären Erwerb aufzubauen. Wer Zeit seines Lebens politisch inaktiv bleiben mußte, bis in die Gedanken hinein reglementiert, wird nicht so leicht zum mündigen Bürger. Wem Lüge und Korruption zur absolut notwendigen „zweiten Haut" wurden, kann sich der von heute auf morgen auf Rechtschaffenheit umstellen?

Wertorientierungen sind bemerkenswert langlebig. Massengesellschaften haben trotz Werte wandel sehr

stabile gesellschaftliche und politische Orientierungen. So muß man fragen, wie lange der Anpassungsund Umstellungsprozeß in den einzelnen „ostmitteleuropäischen Ländern" dauern wird, wirtschaftlich, kulturell und politisch. Bis dahin bleiben sie in einer Situation der „Semiperipherie", der von der Europäischen Gemeinschaft (trotz entgegenkommender Hilfen) die Aufnahme verweigert wird. Damit ist für längere Zeit eine zweite europäische Großregion neben dem Westen existent.

Auf jeden Fall dürfte die Problemlage in der Sowjetunion noch ganz anders sein, wo quasi die Französische Revolution noch nicht stattgefunden hat, wo der ganze „historische Komplex" des Westens mit seinen dynamisierenden Faktoren nur marginal rezipiert wurde. Sicher ist auch Rußland „europäisch", aber in anderer Form. Sowjeteuropa bleibt mit Einschränkungen auch in der Volkskultur eine eigene Region sui generis, wobei der größte Feind der Perestrojka die Masse der Bevölkerung selbst ist, mit ihren langzeitig internalisier-ten behavior patterns (Verhaltensmuster). Die Wirtschaftsdaten (mit Ausnahme des militärischen Komplexes) und alle Sozialindikatoren, von der Telefondichte bis zur Gesundheitsbetreuung, zeigen hier noch weit niedrigere Werte als in Ostmitteleuropa. So muß man deutlich von einer dritten, „Osteuropäischen (Russischen) Groß-Region" sprechen.

Wir konstatieren also derzeit, unabhängig von den Nationalstaaten und von nationalistischen Ideologien eine sozioökonomische Dreiteilung Europas in die Großregionen Westeuropa/ Ostmitteleuropa/europäischer Teil der ehemaligen Sowjetunion.

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