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Es gab die individuelle Schuld

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Es gibt Bücher, welche die Frage offenlassen, ob es sich um die letzten einer verebbenden oder um die ersten einer neu herannahenden Welle handelt. Der Roman „Das Tribunal“ von / Michael Burk (Schneekluth-Verlag) läßt nur hoffen, daß er eine gewisse Art von Literatur über den Nürnberger Prozeß endgültig abschließt. Alle Vorurteile über den Nürnberger Prozeß passieren hier noch einmal in enger Marschformation Revue. Geschickt maskiert zum Teil.

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Es gibt Bücher, welche die Frage offenlassen, ob es sich um die letzten einer verebbenden oder um die ersten einer neu herannahenden Welle handelt. Der Roman „Das Tribunal“ von / Michael Burk (Schneekluth-Verlag) läßt nur hoffen, daß er eine gewisse Art von Literatur über den Nürnberger Prozeß endgültig abschließt. Alle Vorurteile über den Nürnberger Prozeß passieren hier noch einmal in enger Marschformation Revue. Geschickt maskiert zum Teil.

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Das gefährlichste dieser Vorurteile, verpadct In eine Szene voll trivialjuristischen Tiefsinns, gibt der fiktive VerteWigeiT eines fiktiven Angeklagten, in dem Wirtschaftsminister Funk unschwer zu erkennen ist, zum besten: „Doch je länger ich hier den Prozeß verfolge, je mehr ich mich in die Materie einarbeite, desto deutlicher wird mir, daß sich das Verbrecherische des Naziregimes aus einer Kette von Unwägbarem, ja vielleicht von Zufällen ergab. Um dies zu erkennen und sich dem unaufhaltsamen Ablauf entgegenzustemmen, dazu bedurfte es hoher menschlicher Qualitäten. Darf man einen Menschen verurteilen, nur weil er nicht mit derartigen Voraussetzungen gesegnet war?“

Der Roman geht am wesentlichen Phänomen des Nürnberger Prozesses vorbei, nämlich daran, daß er zwar ursprünglich daraufhin angelegt war, auch jene zu fassen, die nichts als zu schwach waren, sich dem, was Burk als „unaufhaltsamen Ablauf“ entgegenzustemmen, daß er aber dann ganz anders geführt wurde und daß hier tatsächlich die individuelle Schuld sehr differenziert auf die Waagschale gelegt wurde. Es handelt sich um einen Exkulpierungs-Kol- portageroman, anderes war auch wohl von diesem Verlag schwerlich zu erwarten.

Das Thema jedoch, der Nürnberger Prozeß, stellt eines der letzten großen zeitgeschichtlichen Themen dar, die noch der Entdeckung durch seriöse deutsche Autoren harren. Da sich der Beginn des Nürnberger Prozesses im Herbst 1975 zum dreißigsten Male jährt, ist im kommenden Jahr in dieser Beziehung einiges zu erwarten. Von zwei großen Projekten seriöser Verlage und Autoren wird bereits gemunkelt. Wo liegen nun die Ansatzpunkte neuer zeitgeschichtlicher Forschungen, weldie neue Erkenntnisse könnten das Bild des Nürnberger Prozesses, so, wie es sich im Bewußtsein zumindest einer großen deutschen Öffentlichkeit verankert hat, grundlegend verändern?

Viele Nürnberger Mißverständnisse gehen auf einen Umstand zurück.

der zugleich den reizvollsten’ Ansatzpunkt neuer historischer Perspektiven darstellt, nämlich, daß in Nürnberg tatsächlich ein anderer Prozeß geführt wurde, als ursprünglich, nämlich in London, geplant. Eine Folgerung, die sich zwingend aus einer Analyse der Urteile, vor allem aber der ausgesprochenen Strafen ergibt.

Die Auseinandersetzung über den Nürnberger Prozeß kreiste zumindest in der deutschen Literatur mehr als ein Jahnzehnt lang monomanisch um den ersten Anklagepunkt, nämlidi um den ominösen Verschwörungspa- ragrajihen („Verscäiwörung gegen den Frieden“). Dieser Anklagepunkt hat sozusagen eine Einengung der KoUektivschuldthese auf einen engeren Personerücreis, nämlich den der Hauptkriegsveibrecher, bedeutet. Dabei wurde — es ist kaum zu glauben und nur psychologisch zu erklären — geflissentlich übersehen, daß zwar in Nürnberg eine Reihe von Schuldsprüchen nach diesem ersten Anklagepunkt gefällt wurde, aber ausschließlich in Veibindung mit Schuldsprüchen nach Anklagepünkt zwei, „Verbrechen gegen den Frieden, Vorbereitung eines Angriffskrieges“. In keinem einzigen Fall scheint ein Schuldspruch nach Punkt eins eine strafverschärfende Wirkung ausgeübt zu haben, so daß die Annahme sich aufdrängt, der Nürnberger Gerichtshof könnte diese Schuldsprüche nur gefällt haben, um die politischen Kräfte, die den Prozeß vorbereitet hatten, um das Londoner Statut nicht zu desavouieren.

Das im Sommer ausgearbeitete Londoner Statut, das die politischjuristische Grundlage des Nürnberger Prozesses und für das Internationale Militärtribunal . verbindlich war, sah vier Anklagepunkte vor:

• Verschwörung,’ Zusammenwirken der Angeklagten in einem „gemeinsamen Plan“;

• Verbrechen gegen den Frieden, Vorbereitung eines Angriffskrieges;

• Kriegsverbrechen;

• Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Der erste Anklagepunkt, dieses bevorzugte Aggressionsobjekt unge-

zählter deutscher Autoren mit nationaler Schlagseite, war ursprünglich tatsächlich als die große Schlinge gedacht, die es ermöglichen sollte, auch solche Angeklagte sdiuldlg zu sprechen, denen nichts weiter nachgewiesen werden konnte, als daß sie mit den Häuptern des Regimes eines Sinnes gewesen waren. Eine reizvolle zeitgeschichtliche Randfrage könnte es sein, welchen Einfluß die Tatsache hatte, daß der erste Anklagepunkt dem amerikanischen Recht entnommen worden war, der Vorsitzende des Internationalen Militärtribunals, Lordriditer Lawrence, aber Engländer war.

Ganze Bibliotheken wurden vollgeschrieben über das Problem, ob und wie stark die NüiT)herger Urteile durch die Tatsache belastet erscheinen, daß in Nürnberg nach rückwirkenden Anklagepunkten geurteilt wurde. Dieses Thema hat die Erörterungen über den Prozeß in einem so grotesken Ausmaß überwuchert, die Diskussion über die Frage, ob und wie weit der zweite Anklagepunkt („Verbrechen gegen den Frieden“) durch internationale Abmachungen der Vorkriegszeit zu einem Bestandteil des Völkerrechts geworden war, wurde so sehr zur Giundfrage ¿es Nürnberger Prozesses stilisiert, daß darüber ein ganz einfacher Sachverhalt vergessen, verdrängt,. völlig übersehen wurde. Nämlich: Ob ein Angeklagter ein Verbrechen gegen den Frieden begangen und sich an der Vorbereitung des Angriffskrieges beteiligt hatte, war in keinem einzigen Falle eine Frage auf Leben und Tod.

In diesem erstaunlichen, aber durch eine Analyse der Nürnberger Urteile eindeutig beweisbaren Sachverhalt liegt der grundlegende Ausgangspunkt jeder zeitgeschichtUchen Recherche, die es wirklich darauf anlegt, zum Kern des Themas vorzustoßen. Daß dieser Sachverhalt in Vergessenheit geriet, oder, genauer, zumindest in deutschen Landen niemals zur Kenntnis genommen wurde, ist freilich nicht oder nicht nur den seit der Eröffnung des Prozesses auf desssen VerteuMung bedachten politischen Kräften anzulasten. Nicht nur, daß die Verurteilung der NS- Qrößen wegen ihrer Mitwirkung an Kriegsverbrechen und Völkermord damals ‘ als Selbstverständiichkeit, ein Verfahren wegen Führung eines Angriffskrieges aber als absolutes Novum betrachtet wurde — auch im Gerichtssaal selbst nahmen die Beweisführungen der alliierten Ankläger in Sachen Angriffskrieg einen Raum ein, der- in keinem Verhältnis zu der Bedeutung der ersten beiden Anklagepunkte in den späteren Urteilssprüchen stand.

Dabei kommt zweifellos einem der Architekten des Prozesses, dem amerikanischen Hauptankläger Jackson, eine Schlüsselstellung zu — niemand war in einem solchen Ausmaß wie er darauf versessen, in Nürnberg (um mit seinen eigenen Worten zu sprechen) nach den „Sternen eines neuen Völkerrechtes“ zu greifen. Bloß: Jackson war die beherrschende Figur bei der Vorbereitung des Prozesses, doch der Vorsitzende des Tribunals, Lordrichter Lawrence, nahm ihm dann die Zügel aus der Hand.

Lawrence ist es zu danken, daß er ein juristisches Unterfangen, das auf den „Griff nach den Sternen eines neuen Völkerrechtes“ programmiert war, mit sicherer Hand und mit dem intakten juristischen Gewissen eines erfahrenen britischen Richters auf den sicheren Boden herkömmlicher, juristisch ebenso wie moralisch abgesicherter Rechtsprechung herun- tergehoit hat.

Aus den Urteilen geht hervor, welcher Maßstab in Nürnberg an Schuld und Unschuld jedes Angeklagten angelegt wurde. Dieser Maßstab war der Maßstab aller Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbücher der zivUisaer- ten Welt. Auf sichere herkömmliche Rechtsgrundlagen lassen sich nämlich die beiden letzten Anklagepunkte, Kriegsverbrechen und Veibrechen gegen die Menschlichkeit, zurück- führen. Hier ging es nicht um rückwirkend postulierte Delikte, sondern um Mord. Und nur die Mitwirkung oder Mitwisserschaft an den Massenmorden des NS-Regimes war dafür ausschlaggebend, ob ein Angeklagter gehenkt oder zu welcher Freiheitsstrafe er verurteüt wurde (letzteres mit einer einzigen Ausnahme).

Es wurde in Nürnberg, und diese seit Jahrzehnten vernebelte Tatsache muß herausgestellt werden, kein einziger Angeklater gehenkt, der sich nicht am Mord mitschuldig gemacht hatte. Mehrere der zum Tod Verurteilten waren nur nach den Punkten drei xmd vier schuldig befunden worden, aber niemand, der nicht auch in diesen Pimkten schuldig gesprochen wurde, wurde zum Tod verurteüt. Entscheidend fiel ein Schuidspruch wegen Vorbereitung des Angriffskrieges ohne Mitspielen herkömmlicher Kriminaltaten nur in einem einzigen Fall überhaupt ins

Gewicht — gegen Rudolf Heß. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß der einizige Verurteilte von Nürnberg, gegen den tatsächlich nach Anklagepunkten geurteilt wurde, die zum Zeitpunkt der Tat noch nicht kodifiziertes Recht waren, auch der einzige Verurteilte Ist, der noch in Haft ist. Und es Ist eine noch größere Ironie der Geschichte, daß dies auf Betreiben e;ben jener Anklägernation so ist, die sich in Nürnberg indirekt eines Kriegsverbrechens nach NS- Methode (Katyn!) beschuldigen lassen mußte. Denn Katyn war ein Anklagepunkt gegen die Deutschen, wurde dann aber fallengelassen wie eine heiße Kartoffel.

Der Nürnberger Prozeß, wie er in

London geplant und im Londoner Statut angelegt wurde, wäre tatsächlich das, was so viele noch immer in ihm sehen wollen, geworden — mindestens möglicherweise. Unter der Leitung von Lordrichter Lawrence aber geriet die geplante Sieger- und Rachejustiz zur Rückkdhr von einem, aus dem Geiste der Zeit, sprich aus dem Schock über die Naziverbrechen erklärlichen Vergeltungsdenken zu den Grundsätzen einer Justiz, die in diesem Fall jedenfalls wesentlich besser war als ihr Ruf.

Tragischerweise, tragisch für den Prozeß der Selbstfindung der Deutschen nach dem Krieg, brachte man es lange Zeit nicht fertig, den Blick auf die Realität dieses Verfahrens zu wenden. Eine Sondersteliung nehmen die in Nürnberg gehenkten oder zu Fredheitsstrafen verurteilten deutschen Militärs ein. Vor allem kn Hinblick auf die in Nürnberg abgehandelten Kriegsverbrechen gewinnt der entscheidende Satz in der großen Anklagerede Jacksons explosive Bedeutung. Jackson wagte die Prophezeiung, nach den in Nürnberg angewendeten Maßstäben würden künftig auch die Taten der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs gewogen werden — ein Satz, der heute manchem schrill in den Ohren Mingt.

Denn wenn man die Todesurteile gegen die deutschen Generäle Keitel und Jodl nach Jacksons Prophezeiung als Präjudizien betrachtet, wäre wohl auch ein Westmoreland schuldig, ein Air-Force-General La- velle schiüdig, um die Frage nach der Qualifikation des von der Johnson- Administration Im Golf von Tong- king arrangierten Zwischenfalle» (NS-Parallele: Gleiwitz) nicht erst zu Stellen. Es gab, wie man sidit, auch auf der aliüerten Seite Gründe, Nürnberg zu tabuieren.

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