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Es geht um Sünde

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Peter Turrinis neues Theaterstück ist in grellen Farben gehalten. Doch gibt es auch Pastell töne. Das Laute an diesem Stück gefährdet die leiser gesprochenen Worte. Da wir wegen Lärmbelastung gehörgeschädigt und durch zu viele, zu krasse Bilder seh-schwach geworden sind, besteht die Gefahr, daß von Peter Turrinis Stück nur das Laute und Grelle bemerkt wird. Er hat diese Gefahr in seinem Stück vorprogrammiert, sie gehört mit zum Inhalt des Stük-kes selber, das er ja eine "Kolportage" nennt und das sich im Blitz-und Scheinwerferlicht der Journalisten abspielt. In dieser grell beleuchteten, nichts verbergenden, alles vor die Kamera und das Mikrophon zerrenden Welt leben und sterben die drei Hauptfiguren des Stückes. Ich möchte im Folgenden das Stück nicht kommentieren, auch nicht literarisch besprechen. Mehr als ein paar Hinweise können es nicht sein.

Hauptgestalt des Stückes ist ein Priester. Das Hauptthema des Stük-kes ist strikt religiös: es geht um die Sünde. Ein Priester sucht die Sünde. Sie ist verloren gegangen. Früher wußte man genau, was die Sünde ist, man konnte sie benennen, anprangern, man beging sie und bereute sie, ging beichten und wußte, daß sie nun vergeben war. Wo aber ist die Sünde heute? Der Priester Christian Bley weiß es nicht mehr. Er verläßt seine Pfarrei, er geht weg, geht die Sünde suchen.

Vor kurzem schrieb die Frank-furter Allgemeine Zeitung: "Die Linke sucht Halt beim Christentum. " Ist nach dem Zusammenbruch der Ideologie der Linken die religiöse Thematik die neue Zuflucht? Wenn ja, wäre dies von vornherein schlecht? Darf Religion nicht Zu-flucht sein? Ist nicht das Christen-tum Halt? Es könnte aber auch sein, daß das Religiöse als dramatischer Effekt gebraucht wird, nachdem alle anderen verbraucht sind. Religiöse Thematik als der letzte "starke Pfeffer"? Was Peter Turrini ver-anlaßt hat, gerade diese Thematik zu wählen, braucht uns hier freilich nicht zu befassen. Es geht um das Stück. Dieses soll befragt sein. Es soll für sich selber sprechen.

Pfarrer Bley geht die Sünde su-chen. Sein Weg ist ein Abstieg zur Hölle. Stufen dieses Weges werden gezeigt. Unnötig realistisch die Begegnung mit der Welt der Sex-Vermarktung, verhaltener der Eintritt in die Todeswelt der Rausch-giftszene, ins Groteske gewendet die Solidarität mit der Welt der Gestrandeten, im Sandlerlokal, im Elendsquartier der Magda Schnei-der. Turrini hat nichts erfunden, es ist Bestandsaufnahme, ohne Weg-schauen.

In Zürich, nahe der reichsten Straße der Welt, in einem kleinen Park, leben die Drogensüchtigen, Todeskandidaten, um die wir alle ratlos oder wegschauend einen Bo-gen machen. Fast alle haben Aids. Lebend kommt kaum einer aus dieser Hölle. Ein Priester, der seit längerem das Leben der Obdachlo-sen teilt, hat drei Tage und drei Nächte am "Platzspitz" in Zürich verbracht. Sein Bericht war Turrini nicht bekannt. Er sagt, er habe in keiner Großstadt und nicht unter "Sandlern" einen solchen Abgrund von Elend erlebt wie unter diesen jungen Menschen, die unter unser aller Augen sich zu Tode spritzen.

Was Turrini darstellt, ist nicht erfunden: Die Peep-Show und das mägersüchtige Mädchen, der Ram-bo-verbildete Rudi und die Waffenhändler. Was aber das Stück über den bloßen Realismus hinaus-hebt, ist die Leitfrage nach der Sünde. Hier zeigt sich etwas Neues, eine neue Fragestellung, die über das stereotype Anklagen der Ge-sellschaft, oder einer Klasse oder der "Bürger" hinausweist. Denn was soll noch ein Anklagen, wenn es keine Schuld mehr gibt, überhaupt keine Schuld mehr? Wo früher die "Bösen" standen, jene Mächte, die angeprangert werden mußten, weil sie die Entfremdung in der Gesellschaft verursachen.tut sich jetzt eine tödliche Leere auf: "Tod und Teufel".

Eine Figur durchzieht das Stück als Gegenspieler des Priesters: sie taucht in drei Gestalten auf, die vom selben Schauspieler gespielt werden: der Bischofssekretär Man-zetti; "der schöne Wolf", der Schlepper des Sexlokals; Leschitzky, der Waffenhändler. Allen drei Gestalten ist gemeinsam, daß alles einerlei ist, daß es das Böse nicht gibt.

Sozusagen theologisch drückt es Pater Manzetti aus: "Sie können die Sünde nicht finden, hätten Sie gesagt. Was gibt es da zu finden? Wo ich hinsehe, sehe ich Sünden. Die Sünde ist überall. Sie ist alltäg-lich, eine Banalität sozusagen. Da gibt es nichts zu finden..." Wenn Sünde überall ist, ist sie nirgends. Dann gibt es nichts zu benennen, nichts zu bereuen, nichts zu verzei-hen. Das besagt in anderer Weise die Pornoszene. Wo alles zu haben ist, gibt es nichts mehr zu finden.

Am krassesten sieht der Autor diesen Verlust im Verhalten des Waffenhändlers. Mord ist nichts anderes als Jagdsport. Das Morden wird kultisch überhöht im Jagdmahl gefeiert, "imitatio perversa" des Abendmahls. Der Priester begegnet in diesen Gestalten dem Teufel. Der Teufel ist in allen drei Verkörperungen freundlich, ver-nünftig, ruhig. Das Böse? Die Sün-de? Ich bitte Sie!

Die vorletzte Szene des Stückes ist meines Erachtens die bedeutendste. Angesichts der totalen Banalisierung des Bösen, und gleichzeitig dessen perverser Ästhetisierung, ja Sakralisierung gibt es nichts mehr anzuklagen. So bleibt nur die große Klage. Nackt sitzt der Pfarrer Bley - der Hiob, der Adam, der Mensch -in einem Schließfach am Bahnhof, und seine Klage verwirrt sich, denn es gibt keinen Himmel mehr, zu dem sie aufsteigen könnte:

"Der Himmel ist auf die Erde gefallen. Es gibt keine Sünde mehr. Die Menschen haben Gott die Sün-de abgekauft. Sie haben die Stützen des Himmels gefällt. Die Säulen des Himmels sind zerbrochen. . Das Himmelreich ist unter uns. Kein Dornbusch brannte, und keine Verkündigung nahm den Menschen den Atem. Niemand rannte, und niemand schrie. Der Himmel kam langsam auf die Erde, wie die Feder einer Taube vom Turme auf den Kirchplatz fällt, sachte, von nie-mandem wahrgenommen... Der Himmel, ein gefallener Baldachin, liegt zertreten auf der Erde. Er muß noch einmal errichtet werden. Die Sünde muß wieder benannt, die Vergebung muß wieder erfleht werden."

In einer Welt, in der die Sünde nicht mehr zu finden ist, gibt es keine Vergebung. Sie ist gnadenlos geworden. An dieser Gnadenlosig-keit gehen wir zugrunde. Sittlichkeit, also die Möglichkeit, das Gute zu erkennen, zu benennen und zu tun, gibt es nur, wenn es auch die Möglichkeit gibt, die Verfehlung des Guten zu erkennen und zu benennen, einzugestehen und zu bereuen. Das ist aber nur möglich, wenn ich weiß, daß solches Eingeständnis mich nicht der Verwerfung und Verdammung ausliefert. Wie wäre Einsicht in eigene Schuld ertragbar ohne die Hoffnung auf einen gnädigen Gott? Nicht die "billige Gnade" kann die Lösung sein, son-dern nur "der große Preis", den sie gekostet hat: "Seht, das Lamm Gottes, das hinwegnimmt der Welt Sünde."

An dieser Stelle nimmt Peter Turrinis Stück eine Wende. Es gibt manche Szenen im Stück, die weni-ger krass sein könnten. Die Schluß-szene halte ich für die einzig schlim-me. Die große Klage des Christian Bley endet mit den Worten: "Ich muß alle Sünden dieser Welt auf mich nehmen. Ich muß noch einmal den Weg des Kreuzes gehen. Ich bin Jesus Christus."

In der Schlußszene kreuzigt sich Bley mit Hilfe der Magda in der polizeiumstellten, beschossenen Wohnung. Angesichts des vor ihm sterbenden Rudi sagt er - und dies sind die letzten Worte des Stücks: "Jetzt hätte ich wirklich gerne eine Hand f rei." Das einzige, was bliebe, wäre menschliche Solidarität und Wärme. Kreuz und Tragen der Sünde - eine Illusion des armen Spinners Christian Bley? Sind Kreuz und Erlösung überhaupt eine Illusion?

Hier geht mein Fragen weiter, an dieses und an frühere Stücke von Peter Turrini: seine Gestalten umgibt, bei aller Krudheit, oft eine gewisse Zärtlichkeit (ich denke hier etwa an "Josef und Maria"). Und doch sind sie allein. Magda sagt zu Bley: "Einsam ist man immer. Aber zu zweit ist man ein bißchen weniger einsam." Begegnen sie einander je wirklich? Können sie einander begegnen, wenn es kein Verzeihen gibt? Und wie soll es Verzeihen geben, wenn das große Verzeihen durch das Kreuz doch Illusion bleibt? Und gibt es wirklich freie Hände zur Zuwendung ohne die Hoffnung? Das ist meine Frage an Peter Turrinis Stück. Tod und Teufel können nicht das letzte Wort sein, denn es gibt das Kreuz und die Auferstehung.

Der Autor ist Professor für Dogmatik und derzeit Sekretär im Redaktionsteam des "Kate-chismus für die Universalkirche".

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