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„Es gibt kein Leben um jeden Preis”

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Ich habe dieses Land selbst nicht gewählt. Ich habe Auschwitz nicht ausgesucht. Auch habe ich in Polen den Einmarsch der Russen nicht begeistert begrüßt. Ich hätte bei uns lieber die Amerikaner und die Engländer gesehen. Polen wäre mir als neutrales Land lieber. Mindestens so neutral wie Finnland, eher noch wie Österreich. Aber wir, die anderen, sind denen, die bürgerlich und normal leben, eigentlich überlegen. Wir sind eben unangepaßt.

Ich lebe in einem Land, in dem ich zu einer kleinen Minderheit gehöre. Nicht wegen meiner Welt-

anschauung, meiner Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, ganz im Gegenteil. Sondern aufgrund der Erfahrung.

Zwei Drittel der Menschen bei uns sind schon nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und erzogen worden. Sie haben diese Erfahrung nicht. Jetzt sammeln sie langsam die Erfahrungen unter dem Kriegsrecht, in der Internierung, auch im täglichen Leben. Sie wissen, was Anderssein bedeutet. Was aus diesen Erfahrungen in den kommenden Jahren im nationalen Leben wächst, wird sehr wichtig sein.

Leider muß jeder diese Erfahrungen selber machen. Sie sind nicht übertragbar. Nicht einmal auf die Kinder, nicht einmal auf die eigenen. Ich bin nicht überheblich. Ich fühle mich nicht als ein besserer Mensch. Nicht besser als die anderen, die ringsum leben und wohnen.

Dazu bin ich auch in der Schule und in meinem Elternhaus erzogen worden: aus Beispielen heraus zu lernen, nicht nur von Heiligen, sondern auch von Menschen, die nicht Schriftsteller waren, die aber im nationalen Leben eine Rolle spiėlten, weil sie mutig Widerstand leisteten. Oder auch deshalb, weil sie mutig gestorben sind.

Wir lernten in der Schule, wie die fünf erhängten Anführer des Jänner-Aufstandes 1864 angesichts ihrer russischen Henker gestorben sind. Sie sind mutig gestorben, für Polen. Aber ich wollte eigentlich nicht sterbe…ür Polen. Ganz im Gegenteil: Das wäre eine Heuchelei.

Aber wir waren so erzogen: Leben um jeden Preis, das ist eine Schande. Es gibt kein Leben um jeden Preis. Leben um jeden Preis, das ist der Kampf in der Natur, das ist der Stärkere, wenn er den Schwächsten angreift. Und wenn dann der Schwächste bereit ist, alles zu machen und sich zu unterwerfen. Das ist unmenschlich.

Zivilcourage ist eine wichtige Tugend für mich. Sie bedeutet, daß man sich dem Strom entgegenstellen muß. Und es sind immer nur wenige, die die Kraft dazu haben.

Man darf die Sache nicht so vereinfachen, wie das manche jüdische Schriftsteller und Historiker getan haben, die Polen wegen der Passivität in Sachen der Hilfe für die bedrohten Juden anzuklagen. Sicher, es gab sehr viele Men schen, die sich gleichgültig verhielten. Sicher, die Juden waren verteufelt, auch in Kreisen der katholischen Kirche. Jahrhundertelang.

Ich muß ganz ehrlich sagen: Wenn ich das angenommen hätte, was ich in der katholischen Schule und Kirche über die Juden gehört habe, ich wäre Antisemit geworden. Nur mein Widerstand gegen Dummheiten und Zwänge im Denken haben mich dahin gebracht, daß ich die Juden verteidigen konnte…

Ich habe Glück gehabt. Ich habe niemanden getötet. Ich habe niemanden geprügelt. Ich habe niemanden geohrfeigt. Aber ich bin geprügelt worden. Ich wurde auf den Kopf geschlagen. (S. 123ff.)

Wir bemühten uns, Juden zu rette…nd Kollaborateure (Polen und Juden), die polnische Familien unter Druck gesetzt hatten, zu verfolgen. In einzelnen Fällen mußten unsere Freunde, die im Untergrund arbeiteten, Todesurteile verhängen. Menschen, denen es nur um das Vermögen der Juden und um das der Unterschlupf gewährenden Polen ging, wurden exekutiert. Es gab keinen anderen Weg. Sie waren ganz einfach Er presser, Erpresser in einer scheußlichen Situation.

Ich bin gerettet worde…on einer mir bis heute unbekannten Frau, einer Polin. Darum verstehe ich auch, was die kleine Geste bedeutet.

Eine mir bis zum heutigen Tag unbekannte polnische Beamtin übernahm und öffnete im Postamt in Warschau einen Brief, der an die Gestapo gerichtet war. Der Schreiber klagte mich der Teilnahme an der Hilfsaktion der Juden an, nannte meinen Vor- und Zunamen, meine genaue Adresse.

Dieser Brief wurde mir in meine Wohnung zugestellt. Selbstverständlich wechselte ich sofort die Wohnung, um dem anonymen Denunzianten zuvorzukommen…

Ich bin Realist, auch wenn ich an Träume glaube. Es gab doch viele persönliche Tragödien als Folge von Denunziationen. All das hat nichts mit Polen oder mit Juden zu tun. Das liegt in der menschlichen Natur.

Wenn man heute über den Frieden spricht, muß man diese grundsätzliche Erfahrung mit einbeziehen. Man muß über den Menschen nachdenken und über das Böse, das ihn prägt. (S. 76f.)

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