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Es gibt Wege aus der Erstarrung

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So verschieden ihre Ansätze sein mögen, das Ziel ist für alle liberalen moslemischen Reformer dasselbe: das Dilemma zu lösen, in das die Theorie - und in manchen Ländern auch die Praxis - des traditionellen Islam die Moslems insofern stürzt, als sie dem westlichen Menschenrechtskatalog in mehreren Punkten zuwiderläuft.

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So verschieden ihre Ansätze sein mögen, das Ziel ist für alle liberalen moslemischen Reformer dasselbe: das Dilemma zu lösen, in das die Theorie - und in manchen Ländern auch die Praxis - des traditionellen Islam die Moslems insofern stürzt, als sie dem westlichen Menschenrechtskatalog in mehreren Punkten zuwiderläuft.

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In diesem Zusammenhang muß man immer wieder betonen, daß absolute, faschistoide Regime, die sich auf den Islam berufen, mit diesem keinesfalls zu verwechseln sind. Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, daß das Offenbarungsbuch des Islam, der Koran, Ansätze enthält, die es seinen Interpreten erlaubten, den Moslems folgende, uns - wenn auch erst seit historisch lächerlich kurzer Zeit - unabdingbar erscheinenden Rechte vorzuenthalten: Die Religionsfreiheit, die auch den Abfall vom Islam vorsieht; die Gleichstellung von Mann und Frau nicht nur vor Gott, sondern auch voreinander; die Befreiung von Körperstrafen.

An der Scharia, dem islamischen Recht, setzen die meisten Reformversuche an. Die Scharia ist interpretatives, nicht kodifiziertes Recht, das auf der Auslegung der islamischen Rechtsquellen - Koran und Uberlieferungsliteratur - basiert. Die Interpretation wurde im wesentlichen im 8. und 9. Jahrhundert während der Herausbildung der vier nach ihren Gründern benannten sunnitischen Rechtsschulen - Hanafiya, Malikiya, Scha-fi'iya und Hanbaliya - vorgenommen. Seit dem Tod Ibn Hanbals Mitte des 9. Jahrhunderts gilt das „Tor zur selbständigen Rechtsfindung" (bab al-idschtihad) geschlossen; die Gelehrten nachfolgender Generationen schlössen sich nur mehr der Lehrmeinung ihrer Vorgänger an. (Dies gilt jedoch nur für die Sunniten; in der Schia ist das bab al-idschtihad nach wie vor offen, was hermeneu-tische Ansätze im Vergleich zur Sünna zweifellos erleichtert.)

Der Koran, die erste Quelle des Rechts, ist die wörtliche Verkündigung Gottes an den Propheten Muhammad. Diese Wörtlichkeit wurde von Anfang an so ernst genommen, daß sich die arabischen Grammatiker bei der Beschreibung des Arabischen nach der Sprache des Korans richteten.

Der Koran ist außerdem nicht nur ewig in alle Zukunft, sondern auch ewig in der Vergangenheit - das heißt nicht erschaffen. Das war keinesfalls immer offizielle Lehrmeinung, aber diese Doktrin machte nach dem Ende des „idschtihad" allen anderen Meinungen den Garaus. Die Verfechter der Nichterschaffenheit des Koran stützten sich unter anderem auf einen Koranvers (Sure 85, Vers 21 und 22), der die Existenz eines im Himmel aufbewahrten „koranischen Prototyps" zu beweisen schien: „Es ist ein glorreicher Koran auf einer wohlverwahrten Tafel."

Wie könnte ein Text, dessen Original bei Gott selbst - materialisiert - vorhanden ist, je Gegenstand historisch-kritischer exegetischer Untersuchungen werden?

Der Weg in die Erstarrung war vorgezeichnet: Allegorische Textauslegung war - bis auf die wenigen Fälle, in denen der Koran unmöglich wortwörtlich gemeint sein konnte

- tabu; jede Abweichung von der offiziellen Exegese kam in den Geruch der Häresie. Von diesem Verdikt, das dem der Apostasie (Glaubensabfall) gleichkommt, sind auch die heutigen Reformer bedroht, die sich an eine Neuinterpretation des Koran wagen.

Die zweite Rechtsquelle, die Uberlieferungsliteratur (hadith), besteht aus zunächst oral tradierten, später gesammelten Anekdoten aus dem Leben des Propheten Muhammad und seiner Gefährten, aus denen die Rechtsgelehrten Regeln für das Verhalten der Moslems herauslasen.

Sich heute diesen Berichten kritisch anzunähern ist viel leichter und vor allem ungefährlicher, handelt es sich doch nicht um Offenbarungstexte. Trotzdem spielten die Überlieferungen in der islamischen Geschichte kaum eine weniger bedeutende Rolle als Rechtsquelle als der Koran, schon allein deshalb, weil exakte Anweisungen im Koran spärlich gesät sind. Und Regeln, die sich direkt am täglichen Leben Muhammads orientierten, werteten seine Person als Vorbild für die Gemeinschaft der Moslems ungemein auf.

Keine geringe Herausforderung für die Reformer: das eigene religiös-kulturelle Erbe kritisch zu sichten, weiterzuentwickeln und es gleichzeitig zu bewahren. Der Weg dorthin ist verschieden, aber gemeinsam ist die Forderung, das „Tor zur selbständigen Rechtsfindung" wieder zu öffnen und damit eine Neuinterpretation der Rechtsquellen zu ermöglichen.

Das Instrumentarium dazu könnte die wiederbelebte rationalistische Theologenschule (Mu'tazila) liefern, die schon im 9. Jahrhundert die These von der Nichterschaffenheit des Koran ablehnte. Denn wenn der Koran erschaffen ist, so müssen bei seiner Interpretation auch die historischen Umstände, in denen die einzelnen Verordnungen entstanden, in Betracht gezogen werden! Daß vieles davon nicht in die Gegenwart übertragen werden kann, ist die logische Folge.

Weitere Impulse kommen aus der Mystik: In diesem Zusammenhang kann man gar nicht oft genug an den sudanesischen Theologen Mahmud Taha erinnern, der 1985 vom Regime al-Numayri nach einem kurzen Scheinprozeß wegen Apostasie hingerichtet wurde. Taha, ein tiefgläubiger Moslem, hatte sich gegen die „Islamisierung" des Sudans gewehrt. Schon den ersten Entwurf einer islamischen Verfassung 1965 qualifizierte er als „weder Verfassung noch islamisch, weil sie Frauen und Nichtmoslems diskriminiert"!'

Dieses Islam-Verständnis kam aus der Überzeugung, daß die Scharia weiterentwik-kelt werden müsse. Dazu unterschied Taha zwischen den Offenbarungen, die Muhammad einerseits in Mekka, andererseits nach der Hidschra 622 in Medina empfing, wo er auch eine politische Aufgabe wahrzunehmen hatte. Von diesen politischen Zwängen Muhammads dürfe man die Medinensische Verkündigung niemals loslösen. Ihre Verordnungen (und vor allem die Schlüsse, die die Interpreten daraus zogen) seien keineswegs ewig gültig, sondern nur als zu überwindender Anfang zu betrachten. Dieser Ansatz, die Scharia nicht als Ziel, sondern als Ausgangspunkt für die Suche nach Wahrheit, ist in der islamischen Mystik seit jeher zu Hause.

Der Islam eines Mahmud Taha und anderer Reformer sieht anders aus als der, der sich selbst - von den westlichen Medien willigst gefolgt - eindringlich als der einzig wahre präsentiert. Umso wichtiger ist es, immer wieder darauf hinzuweisen, daß es sehr wohl moslemische Reformer gibt, die im Islam genau das suchen und finden, was der Westen als ausschließlich seine authentischen Errungenschaften betrachtet: Humanitat, Toleranz und Emanzipation. Die moslemischen Intellektuellen, die für diese - ihrer Meinung nach mindestens ebenso authentisch islamischen - Werte kämpfen, verdienen unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung.

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