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Es ist nicht alles Gold, was im Westen glänzt...

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Ist Vorarlberg tatsächlich ein Musterländle? Wenn man einen Blick auf die Wirtschaftsdaten des zweitkleinsten österreichischen Bundeslandes wirft, ist man versucht zu sagen: Ja! Tatsächlich hat sich die Vorarlberger Wirtschaft in den letzten Monaten erneut von der gesamtösterreichischen abgekoppelt und erlebt einen Höhenflug - vor allem einen Exportboom.

Erkauft.hat sich das „Ländle“ diese Spitzenstellung in der österreichischen Wirtschaft freilich auch mit einer ganzen Reihe von Problemen. Es ist beileibe nicht alles Gold, was im Westen glänzt.

So ist etwa der Weg des Wirtschaftsaufschwungs von einer Reihe von Leichen gesäumt. Mit spektakulären Pleiten — Hero (Herrburger und Rhomberg), dem ältesten Textilunternehmen Österreichs, Ganahl und jüngst der Deckenfabrik Sannwald -gingen Flaggschiffe der österreichischen Textilindustrie unter. Sie hatten den Umstrukturierungsprozeß verpaßt, wurden Opfer des beinharten internationalen Konkurrenzkampfes.

Die exponierte Lage Vorarlbergs im Westen bedingt für die Wirtschaft eine extrem starke Orientierung auf die Weltmärkte. Der Ausleseprozeß in der Textil-branche ist noch nicht abgeschlossen, wie Insider wissen.

Daß diese Pleiten, die es nicht nur im Textilbe-r eich gibt, für viele Hunderte Menschen mit dem Verlust der Arbeitsplätze — oft einer Lebensstellung seit Generationen —, dem Auszug aus Werkswohnungen, Tragödien in den Familien verbunden sind, was nur durch die Chance, angesichts der guten Konjunkturlage eventuell in anderen Berufen Unterschlupf zu finden, gemildert wird, scheint indes in keiner Statistik auf.

Erkauft wurde der wirtschaftliche Fortschritt des Ländle aber auch durch einen besonders hohen Gastarbeiteranteil, der in den siebziger Jahren bei über 18 Prozent lag und heute um die 13 Prozent pendelt.

„Wir haben Arbeitskräfte gerufen und es kamen Menschen“: diese Menschen — hauptsächlich Jugoslawen und Türken — haben hierzulande wenig zu lachen, trotz aller Bemühungen um den Ausgleich sozialer und menschlicher Härten.

Die Gastarbeiterfamilien leben vielfach in Substandard-Woh-nungen, in abgewohnten, ja abbruchreifen Häusern, mehrere Familien aufeinandergepfercht, zu sündteuren Mieten.

Die gesellschaftliche Integration ist bei den Türken (rund 48 Prozent der Gastarbeiter) besonders schwierig. Die Jungen werden zwischen zwei Welten und Kulturen — der islamischen und der europäischen - fast zerrieben. Der eigenen Heimat sind sie entfremdet, in die neue können sie sich auf Grund der starren Strukturen der Familienclans kaum eingliedern. Für Mädchen ist die Lage noch viel schlimmer als für Buben. Zahlreiche Tragödien spielen sich im stillen ab.

Obwohl es in den letzten Jahrzehnten nie zu einem Ausbruch eines offenen Ausländerhasses kam, bringt der nach wie vor hohe Gastarbeiteranteil auch für die einheimische Bevölkerung große Belastungen.

Zwei Beispiele mögen dies illustrieren: Wenn in Kindergärten und Schulen manchmal der Anteil der fremdsprachigen Kinder 50 Prozent und mehr ausmacht, kann man sich an den Fingern abzählen, was dies für den Unterricht bedeutet. Und eine Wohnung an ein Gastarbeiter-Ehepaar mit zwei Kindern zu vermieten, hat meist zur Folge, daß über kurz oder lang eine ganze Sippe einzieht.

Vorarlberg hat zudem, wenn auch behutsam, in den letzten Jahren Arbeitsmarktprobleme „exportiert“ — durch den Abbau der Gastarbeiter um mehrere tausend: wirtschaftlich vernünftig zwar, aber gleichfalls mit Härten und individuellen Tragödien verbunden.

Die Grenzlage zur Schweiz, zu Liechtenstein und zur Bundesrepublik Deutschland schafft wiederum einige Probleme. Der Anteil der Grenzgänger - über 80 Prozent davon pendeln in die Ostschweiz und nach Liechtenstein aus — beträgt fast zehn Prozent der unselbständig Beschäftigten im Ländle.

Nicht immer ist der hohe Stundenlohn in Schweizer „Fränkli“ auch wirklich lohnend: ein 14. Monatsgehalt gibt es in der Schweiz kaum, einen „Dreizehnten“ nicht überall, das soziale Netz ist dünner geknüpft, die soziale Sicherheit muß teuer bezahlt werden.

Die Attraktivität des Arbeitsplatzes Schweiz/Liechtenstein aber stellt die Vorarlberger Betriebe oft vor eine unlösbare Aufgabe.

So herrscht in der Ländle-Indu-strie ein drückender Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften und Facharbeitern. Viele Ausbildungsbetriebe, vor allem in der aufstrebenden Metall- und Elek-tro/Elektronik-Branche, „produzieren“ regelrecht Fachkräfte für die Schweiz, weil sich junge Leute hier ausbilden lassen und nach Abschluß dieser Ausbildung flugs ins vermeintliche „Franken-Paradies“ entschwinden.

Das muß ein Unternehmen, das angesichts der höheren Steuerlast und Lohnnebenkosten in Österreich ohnehin Wettbewerbsnachteile auf den internationalen Märkten hat und deshalb mit dem Schweizer Lohnniveau nicht mitbieten kann, erst einmal verkraften.

Die hohe Produktivität der Ländle-Wirtschaft zeitigt schließlich Leistungsdruck und Streß, Drei- und sogar Vierschichtbetriebe, oft Gegenschichten von Mann und Frau. Abnützungserscheinungen, Gesundheitsprobleme, Depressionen, familiäre Spannungen, kaputte Ehen, hohe Selbstmordrate stehen auf der Kehrseite dieser Vorarlberger „Erfolgsbilanz“.

Vorarlberg — ein Wirtschafts-Musterländle? Ja. Aber es gibt — auch ohne verstaatlichte Industrie — genügend Schlagschatten. Sie scheinen nur in den Erfolgsstatistiken nicht auf. Und dabei wurden hier nur jene kurz ausgeleuchtet, die sich aus den Besonderheiten der Ländle-Wirtschaft ableiten. Es gibt auch andere.

Der Autor ist Chefredakteur der „Neuen Vorarlberger Tageszeitung“.

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