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Es muß nicht immer das Spital sein

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Der Zug zur stationären gesundheitlichen Versorgung hat sich in den letzten Jahrzehnten so verstärkt, daß wir heute in Österreich hinsichtlich der Bettendichte Weltspitzenwerte erreicht haben. Der naturwissenschaftliche Fortschritt und die Entfaltung der Medizintechnik einerseits, die Schrumpfung der Primärgruppe zur Kleinfamüie mit außerhäuslich berufstätiger Frau anderseits und die Bereitschaft der Bevölkerung, Pflegebe- dürfnisse durch anonyme Dienstleistungen befriedigen zu lassen und dafür Angaben zu leisten, hat den Bedarf nach stationärer Versorgung in die Höhe getrieben und neue Probleme geschaffen.

Der steilen Aufwärtsentwicklung stehen Fragen nach der Qualität der sozialen Leistung im Verhältnis zur Höhe der Abgaben und nach der Leistungsfähigkeit des Systems hinsichtlich der Bedürfnislage gegenüber. Es beginnt sich ein Unbehagen breitzumachen. Das Gesundheitsbewußtsein der Bevölkerung steigt, Defizite werden erkannt und artikuliert Im besonderen kritisiert wird an den Krankenhäusern

• der Informationsmangel der Kranken und ihrer Angehörigen über Art, Verlauf und Prognose ihrer Krankheit und Behandlung,

• der Intimitätsmangel durch gedankenlose und technokratische Abfertigung,

• die Inhumanität, unter der gestorben werden muß,

• die wirtschaftliche Insuffizienz. Insgesamt also ein Zustand, in dem die Umsetzung der ärztlichen Diagnose und Therapie in die tägliche Lebenspraxis des Betroffenen nicht gelingt, weil das Gesundheitssystem nicht patientenzentriert arbeitet und weil die Ausbildung der Mediziner nicht darauf ausgerichtet ist, Bedingungen und Konsequenzen ihres ärztlichen Handelns zu reflektieren, die Ärzte aber dennoch die Monopolstellung in der Planung und Durchführung der Gesundheitsarbeit innehaben. Nun tritt allmählich die Erkenntnis ins Bewußtsein, daß die Gesundheitsbedürfnisse der Bevölkerung nicht nur medizinische sind, sondern auch pflegerische, rehabilitative und soziale, und daß diese vom Arzt nicht abgedeckt werden, weil er sie nicht als seine Aufgabe anerkennt und weil dies auch zu teuer wäre.

Man hält Ausschau nach Alternativen und spricht von den Möglichkeiten, Vorteilen und Formen einer außerstationären gesundheitlichen Versorgung, wie sie sich im Ausland seit Jahrzehnten bereits bewährt. Ein ambulantes Versorgungssystem braucht Bedingungen, die eine Änderung traditioneller Denkweisen bei den Berufsgruppen, aber auch bei den Sozialversicherungsträgem voraussetzt

Wie die Erfahrung verschiedener Finanzierungsmodelle ergibt, wird eine Verbesserung der gesundheitlichen Lebensqualität erst auf der Basis einer Änderung des Krankheitsbegriffes im ASVG möglich sein, wenn vorbeugende, pflegende und rehabilitative Maßnahmen im Wohnbereich für zahlungswürdig erklärt werden. Unter Einsatz beträchtlicher öffentlicher Mittel wird eine Reihe qualifizierter Gesundheitsberufe (Sozialarbeiter, Krankenschwestern, Familienhelferinnen, Hebammen) herangebüdet, die warten, neben den ärztlichen Dienst treten und ihr Berufswissen auf eigenständiger, kooperativer Basis anwenden zu können.

Einen Teübereich der gesundheitlichen Versorgung im außerstationären Bereich stellt die pflegerische Versorgung dar, die in Österreich in den letzten zwei Jahren Fuß gefaßt hat. Modelle des Roten Kreuzes, der Gemeinden Wien und Innsbruck und Einrichtungen privater Vereine in Vorarlberg sind soweit gediehen, daß sie in eine allgemeine Praxis übernommen werden können. Die Finanzierungsfrage ist offen; die Krankenkassen fühlen sich für Pflegeleistungen außerhalb des Krankenhauses nicht verpflichtet, und die Sozialhilfeverbände leiden an der Veschuldung ihrer Gemeinden.

Die Berechtigung und der Bedarf nach einer qualifizierten Hauskrankenpflege steht außer Zweifel: 85 Prozent der ärztlich diagnostizierten Krankheiten spielen sich außerhalb des stationären Systems ab und bleiben der Selbstbehandlung durch den Laien überlassen. Entsprechend sind auch die Defizite in der gesundheitlichen Versorgung - schon die ersten Versuche einer Evaluierung des Zustandes ärztlich überwachter Kranker beweisen dies. Der Kranke und seine Angehörigen bewältigen es nicht, ihre Gesundheit zu beobachten und zu pflegen. So bleibt das Krankheitsverhalten passiv, Zustandsverschlechterungen werden nicht erkannt, Medikamente unrichtig eingenommen und technische Handgriffe unsachgemäß durchgeführt.

Es fehlt in Österreich die Stufe zwischen ärztlicher Behandlung und ihrer praktischen Verwertung auf der Konsumentenebene. Läßt man sich vom Glitzern verchromter Apparaturen in teueren Spezialabteüungen nicht blenden und lenkt man dafür seine Schritte in die Wohnungen der Menschen, die „Essen auf Rädern“ beziehen, erkennt man deutlich, daß die medizinische Versorgung derzeit nicht überall hinreicht: wer infolge eigener Immobilität nicht in der Lage ist, den Arzt aufzusuchen, bleibt nur zu oft ohne Behandlung oder scheint erst auf, wenn sein Zustand in eine lebensgefährliche Krise geschlittert ist.

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