6805838-1972_06_12.jpg
Digital In Arbeit

Es „rauriselt“ in der Literatur

19451960198020002020

Zum zweitenmal gab es im salzburgischen Rauris Literaturtage. Kulturpolitische Prominenz des Landes war angereist, Schriftsteller, Dichter und Hörer mit internationalem Flair, viel Kamera-Musik des ORF und ZDF. Das Rauristal, von wintersportlicher Konjunktur verschont und dafür mit Naturschönheit und unverdorbener Kommunikationsfreude gesegnet, hat auf Kontrastprogramm gesetzt und zumindest Publizität gewonnen. Schon spricht man von dem „Beispiel Rauris“, der Initiator Erwin Gimmelsberger will von ähnlichen Bestrebungen im ganzen deutschen Sprachraum wissen.

19451960198020002020

Zum zweitenmal gab es im salzburgischen Rauris Literaturtage. Kulturpolitische Prominenz des Landes war angereist, Schriftsteller, Dichter und Hörer mit internationalem Flair, viel Kamera-Musik des ORF und ZDF. Das Rauristal, von wintersportlicher Konjunktur verschont und dafür mit Naturschönheit und unverdorbener Kommunikationsfreude gesegnet, hat auf Kontrastprogramm gesetzt und zumindest Publizität gewonnen. Schon spricht man von dem „Beispiel Rauris“, der Initiator Erwin Gimmelsberger will von ähnlichen Bestrebungen im ganzen deutschen Sprachraum wissen.

Werbung
Werbung
Werbung

Ob Rauris oder der Trend zuerst da waren, ist unerheblich. Rauris ist nur das äußere Symptom für die Mündigkeit der Länder in der Literatur. Für Kongresse von Ärzten oder Computerprogrammierern mag es gleichgültig sein, ob Berge oder Betonmauern zum Tagungssaal hineinsehen, für Schriftsteller bewirkt die Kulisse stets Sensibilisierung für

Themen und Motive. Uwe Johnson, seine Überzeugung loszuwerden, um in Rauris heuer übrigens zum ersten Male an einem österreichischen Vortragspult, akzentuierte die Einflüsse der Umwelt auch sogleich und bekannte, daß er sich von den „gewaltigen Dingern, die da herumstehen“, zutiefst irritiert fühle.

Die Literaturtage in Rauris haben keine bestimmte Vortragsthematik. Die Dichter lesen aus ihren Werken. Nicht zuviel und nicht zu viele. Man nimmt sich bewußt Zeit zum Wandern, zum Beisammensitzen, zum Eisstockschießen und Eislaufen. Man ist menschenfreundlich und hetzt die Teilnehmer nicht von Termin zu Termin. Dafür verlegt man zwei Lesungen in den Schütthof, fünf Kilometer außerhalb des Orts, in eine geräumige alte Bauernstube wie aus dem Bilderbuch. Da saßen Rudolf Bayr an einem und Alois Brandstetter am andern Tag im Herrgottswinkel. Hilde Spiel kostet Bauernschnaps und Wolfi Teuschl lehnt am Kachelofen. Ein Schäferspiel der Urwüchsigkeit manchmal, leicht inszeniert, aber gemütlich. „Kann ich jetzt anfangen?“ fragt der Dichter. Er kann. Und wenn er aufhören will, ruft einer von der Ofenbank her noch nach einem Text, den er gerne gehört hätte. Ein zünftiger literarischer Hüttenzauber. Was die Sportler im „Roten Ochsen“ können, das können die Schriftsteller auch.

Die Kulturpolitiker des Landes Salzburg als Mäzene reden in der Halle der neuen Schule, ergreifen der Reihe nach das Wort, grüßen und danken, gedenken und mahnen, Landeshauptmann Dr. Lechner hat einen Wunschkatalog an die jungen Autoren: mehr Glaube an das Gute, Mithilfe bei der Senkung der Selbstmordquote, Kampf gegen Alkohol und Rauschgift. Höflicher Beifall. Vielleicht wär's wirklich besser gewesen, nicht zu applaudieren und dafür zu diskutieren. Der Politiker hat ja ehrliche Sorgen — und die Schriftsteller haben sie auch, und es ist eigentlich traurig, daß beide so aneinander vorbeireden. Der Kulturreferent Dr. Moritz weiß, was Dichter wünschen. Er kündigt einen Salzburger Literaturpreis für Prosa als eine Art Gegenstück zum Georg-Trakl-Preis an. Der deutsche Verleger Heinz Friedrich spricht zum Thema „Der Autor und sein Schatten“. Daß der Mann ausgerechnet nach Österreich kommen mußte, um in blendender Rhetorik und historischer Reminiszenz den Schriftsteller aus der angestrebten Sozialpartnerschaft hinauszuweisen, das spricht sicher für den guten Ruf der hierzulande geübten Toleranz.

Einen Preisträger erkor man auch. Adolf Haslinger, Klaus Gmeiner und Gunda Nagl-Hradil hatten als Jury unter 20 Einsendern zu wählen. Sie entschieden sich für Bodo Ernst Hell, einen 29jährigen Studenten, der bisher noch nichts publiziert hat. Dozent Dr. Haslinger stellt die Hoffnung von Rauris vor. Hell liest, sehr flink und zielbewußt, mit Sozialkritik in montierter Lyrik, in der Erzähltechnik eine Weiterentwicklung des Stils von Thomas Bernhard. Es ist unfair, ihn gleich einzuordnen. Ein Nachwuchstalent hat eine Chance verdient und bekommen. Das ist zu melden und zu akklamie-ren. Im nächsten Jahr soll der Rau-riser Literaturpreis — Dotation 10.000 S — in ein Arbeitsstipendium umgewandelt werden.

Der Versuch, die Dichter, die an den vier Tagen in Rauris vorgelesen haben, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, führt mitten hinein in die neue Heimatwelle der Literatur. Zu den Österreichern Rudolf Bayr, Alois Brandstetter und Hans Lebert kommt noch der Schweizer Adolf Muschg. Auch Barbara Frisch-muth mit ihren neuen Arbeiten zählt dazu. Die Provinz bildet den gesellschaftlichen Hintergrund für eine verfremdete oder realistische Sicht menschlicher Nöte und Konflikte. Naivität ist ein künstliches Stilmittel geworden. Psychologie erprobt sich im engen Kreis. Die Idylle ist grausam oder lächerlich. Manchmal stellt sich Heiterkeit unfreiwillig ein.

Drei Ausnahmen. Günter Eichs esoterische Texte stehen daneben und man weiß nicht wo. Er ist der einzige, der persönlich jene Distanz von den Wirklichkeiten der Welt ausstrahlt, die mehr als den Schriftsteller ausmacht. Dann Peter Handke, kein Publikumsbeschimpfer mehr, sondern jetzt ein ganz dichter Prosaist, kühl und überzeugend. Und das Ereignis Uwe Johnson, der große Erzähltechniker, Protokollar der „Jahrestage“, mit dem Horizont über Kontinente.

Befruchtung und Spannung also mittendrin. Auch die Dissonanz einer fast mißglückten Schlußdiskussion gehört dazu. Zwischen Beschimpfungen der „Kulturbonzen“ und den geballten Fäusten der Rauriser Bürger war schon die Lunte ans Pulverfaß gelegt. Exodus des halben Saales. Umfunktionierung zu einer Gewissenserforschung und einem eigentlich recht harmlosen Wunschkatalog an die Veranstalter. Diese waren inzwischen entschwunden, um in einem Weinkeller den beim Eisstockschießen von den Dichtern gewonnenen Schweinskopf zu verspeisen. Die Revolutionäre folgten ihnen und wurden gesättigt. Scherzo finale über das Thema: das österreichische in der österreichischen Literatur.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung