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Ethos und Moral nicht überflüssig

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„Das europäische Erbe und seine christliche Zukunft" behandelt ein von der Hanns Martin-Schleyer-Stiftung gemeinsam mit dem Päpstlichen Rat für Kultur in München abgehaltener Kongreß.

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„Das europäische Erbe und seine christliche Zukunft" behandelt ein von der Hanns Martin-Schleyer-Stiftung gemeinsam mit dem Päpstlichen Rat für Kultur in München abgehaltener Kongreß.

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Das Christentum hat entgegen seinen Verkehrungen den Messia-nismus gerade nicht im Politischen angesiedelt. Es hat ganz im Gegenteil von Anfang an darauf bestanden, das Politische in der Sphäre der Rationalität und des Ethos zu belassen. Es hat die Annahme des Unvollkommenen gelehrt und ermöglicht. Anders ausgedrückt: Das Neue Testament kennt politisches Ethos, aber keine politische Theologie. Genau in dieser Unterscheidung verläuft die Grenzlinie, die Jesus selbst und dann sehr nachdrücklich die Apostelbriefe zwischen Christentum und Schwärmerei gezogen haben.

So fragmentarisch und zufällig die verschiedenen Äußerungen des Neuen Testaments zum politischen Bereich im einzelnen auch sein mögen, in diesem Grundentscheid sind sie durchwegs einig und klar: immer wird der Enthusiasmus abgelehnt, der Gottes Reich zum politischen Programm zu erheben versucht. Immer gilt, daß die Politik nicht der Bereich der Theologie, sondern des freilieh zuletzt nur theologisch zu begründenden Ethos ist.

Gerade so bleibt das Neue Testament seiner Absage an die Gerechtigkeit aus Werken treu, denn politische Theologie im strengen Sinn des Wortes besagt, daß die vollendete Gerechtigkeit der Welt durch unser Werk produziert werden muß, daß Gerechtigkeit als Werk und nur so entsteht. Sie ist machbar und wird gemacht. Wo dagegen der Staat auf das Ethos gegründet wird, ist der Mensch zwar ganz in Pflicht genommen, aber Gottes bleibt, was Gottes ist.

Die Herleitung staatlicher Gerechtigkeit vom Ethos und nicht von den Strukturen bedeutet die Annahme der Unvollkommenheit des Menschen. Sie ist menschlich realistisch, das heißt vernünftig und theologisch wahr. Die Absage an die Werke richtet sich nicht gegen die Moral, sondern nur das Ausharren in der Moral bleibt dieser Grunderkenntnis des Neuen Testaments treu. Der Mut zur Rationalität, der ein Mut zur Unvollkommenheit ist, braucht die christliche Verheißung, um an seinem Ort standhalten zu können: Die Verheißung wehrt dem Mythos, sie wehrt den Enthusiasmus und seine scheinrationalen Verheißungen ab.

Der christliche Glaube erweckt das Gewissen und begründet das Ethos. Er gibt der praktischen Vernunft Inhalt und Weg. Die eigentliche Gefahr unserer Zeit, der Kern unserer Kulturkrise, ist die Destabilisierung des Ethos, die darauf beruht, daß wir die Vernunft des Moralischen nicht mehr begreifen können und Vernunft auf das Berechenbare reduziert haben. Der Versuch, den Menschen und die menschlichen Dinge von außen her, vom Quantitativen und Machbaren aus zu stabilisieren oder zu befreien, muß seinem Wesen nach fehlschlagen. Er bedeutet seinem Ansatz nach die Unterordnung des Geistigen unter das Quantitative, die Unterordnung der Freiheit unter den Zwang.

Die Befreiung von der Moral kann daher ihrem Wesen nach nur Befreiung zur Tyrannis sein. Nach alledem ist es auch kein Ausweg, das Moralische ins Subjektive abzudrängen und es damit als öffentlich wirksame Kraft formell abzuschaffen. Ebensowenig ist es ein Ausweg, Moral in Berechnung umzusetzen, weil sie damit als Moral wiederum aufgehoben wird. Es führt kein Weg daran vorbei, daß wir uns wieder zu einer größeren Weite der Vernunft bekehren müssen, daß wir die moralische Vernunft wieder als Vernunft erlernen müssen.

Für das Staatswesen heißt das, daß die Gesellschaft nie fertig ist, sondern immer wieder vom Gewissen her neu gebaut werden muß und nur von dort her gesichert werden kann. Das bedeutet des weiteren, daß der grundlegende Akt für die Entwicklung und für das Uberdauern gerechter Gesellschaften die moralische Erziehung ist, in der der Mensch den Gebrauch seiner Freiheit erlernt. Die Griechen hatten durchaus recht, wenn sie Erziehung zum Kernbegriff ihrer Heilslehre erhoben und in der Erziehung die Gegenkraft zur Barbarei sahen. Wo Moral als überflüssig erklärt wird, wird Korruption zur Selbstverständlichkeit, und Korruption korrumpiert die Staaten wie die einzelnen zugleich.

Aber das Ethos begründet sich nicht von selbst. Auch das aufgeklärte Ethos, das unsere Staaten noch zusammenhält, lebt von der Nachwirkung des Christentums, das ihm die Grundlagen seiner Vernünftigkeit und seines inneren Zusammenhangs gegeben hat. Wo der christliche Boden völlig weggezogen wird, hält nichts davon mehr zusammen.

Die Vernunft, die sich in sich selbst abschließt, bleibt nicht vernünftig, so wie der Staat, der vollkommen sein will, tyrannisch wird. Die Vernunft braucht Offenbarung, um als Vernunft wirken zu können. Die Beziehung des Staates auf den christlichen Grund ist unerläßlich, gerade wenn er Staat bleiben und pluralistisch sein soll.

Kardinal Josef Ratzinger ist Präfekt der Römischen Kongregation für die Glaubenslehre und hielt den Eröffnungsvortrag des Münchner Kongresses (24. bis 26. April); obiger Beitrag ist ein Abschnitt daraus.

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