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„Euer Gnaden“ mit der MP

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Chile gehört zu den wenigen lateinamerikanischen Ländern, in denen die Gewalt als politische Methode eine geringe Bolle spielte und unter den Parlamentariern der verschiedenen Richtungen eine starke Kollegialität herrschte. Jetzt sucht man Guerrilleros in Regierungskreisen, und wenn die Senatoren sich auch noch in überhöflicher Form mit der altertümlichen Formel „Su Sefioria“ („Euer Gnaden“) ansprechen, so spürt man doch die dicht vor der Explosion stehende Spannung zwischen den Gruppen, die eine klassenkämpferische Revolution im Rahmen der traditionellen chilenischen Demokratie durchsetzen wollen, und den durch ihre gemeinsame Feindschaft gegen Allende zeitweise geeinten oppositionellen Kräften, die Alessandris Konservative und Freis Christdemokraten umfassen.

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Chile gehört zu den wenigen lateinamerikanischen Ländern, in denen die Gewalt als politische Methode eine geringe Bolle spielte und unter den Parlamentariern der verschiedenen Richtungen eine starke Kollegialität herrschte. Jetzt sucht man Guerrilleros in Regierungskreisen, und wenn die Senatoren sich auch noch in überhöflicher Form mit der altertümlichen Formel „Su Sefioria“ („Euer Gnaden“) ansprechen, so spürt man doch die dicht vor der Explosion stehende Spannung zwischen den Gruppen, die eine klassenkämpferische Revolution im Rahmen der traditionellen chilenischen Demokratie durchsetzen wollen, und den durch ihre gemeinsame Feindschaft gegen Allende zeitweise geeinten oppositionellen Kräften, die Alessandris Konservative und Freis Christdemokraten umfassen.

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Die Opposition, die bis März 1973 die Mehrheit im Parlament hat, wenn es nicht bis dahin einen Putsch von rechts oder links gibt, hat zwei sozialistische Innenminister, erst den jetzigen Kriegsminister Jose Toha und jetzt Hernän Del Canto, wegen Verfassungsbruches angeklagt und damit zu Fall gebracht. Allende beschuldigt sie, die Bestimmungen der Verfassung verdreht zu haben, um den Vormarsch des revolutionären Prozesses zu behindern. Man warf Del Canto u. a. vor, die Zollbeamten angewiesen zu haben, Kisten aus einem kubanischen Flugzeug ungeprüft zu entladen, und auch sonst Normen des öffentlichen Rechtes verletzt zu haben. Im Senat gab es eine stundenlange Debatte darüber, ob neue Guerillagruppen in Chile tätig seien, die von der Regierung gedeckt würden. Als im Juni vorigen Jahres der ehemalige christdemokratische Vizepräsident Edmundo Perez Zujovich ermordet wurde, suchte man zuerst unter den Rechtsradikalen die Schuldigen, zumal die Gruppe des jetzt zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilten Generals Roberto Viaux der Entführung und Ermordung des Oberbefehlshabers des Heeres General Rene Schneider überführt wurde. Aber es stellte sich heraus, daß der christdemokratische Politiker ein Opfer der linken Guerillagruppe VOP („Vanguardia Organizada del Pueblo“ — „Organisierte Vorhut des Volkes“) geworden war. Die Opposition beschuldigte Allende, bei seinem Amtsantritt die vorher wegen zahlloser Terrorakte verurteilten Aktivisten der VOP illegal begnadigt und ihnen damit erst die Möglichkeit zu neuen Straftaten gegeben zu haben. Gegen Mitglieder einer anderen Guerilla, der FAR („Fuerzas Armadas Revolucionarias“ — „Revolutionäre Streitkräfte“), die seit 1968 Überfälle, Räubereien usw. am laufenden Band begangen hatte, sind zur Zeit Strafverfahren anhängig. Die Sensation ergab sich aus der Entdeckung, daß diese Terroristengruppe von Nahum Castro angeführt wurde, der in ihren Reihen „Coman-dante Serapio“' genannt wurde. Er war ein bekanntes Mitglied der Sozialistischen Partei Allendes und vor seiner Verhaftung vom Präsidenten zum Direktor der staatlichen Eisenbahnen ernannt worden.

Im Senat wurde weiter hervorgehoben, daß prominente Mitglieder der Sozialistischen Partei, vor allem der Planungsdirektor der staatlichen Luftlinie LAN, Anibal Severino, und Kollegen von ihm in einen Waffenschmuggel verwickelt waren, der durch Zufall bei dem Verlust einer Kiste in Panama entdeckt wurde. Wozu diese Waffen dienten, wurde nicht aufgeklärt.

Vor allem stand aber eine bisher völlig unbekannte Guerillagruppe, die sich „Comando 16 de Julio“ nannte, im Mittelpunkt der Debatte, nachdem im Juli 1972 23 ihrer Mitglieder wegen zahlloser Verbrechen, vor allem Raubüberfällen, verhaftet worden waren. Die Regierung bestritt nicht, daß es sich meist um vorbestrafte Elemente handelte, die zum Teil auch vorübergehend an den Regierungsparteien tätig gewesen seien, wenn sie auch meist ausgeschlossen wurden oder sich in letzter Zeit selbst von ihnen zurückgezogen hätten. Am 28. Juni 1972 brach eine Bande von acht Terroristen in das Haus des' bekannten Kaufmannes Camel Allel ein, sperrte die Familie und die Hausangestellten in ein Zimmer und fuhr im Jeep des Beraubten mit dessen Dollars, chilenischen Es-cudos und Schmucksachen fort. Wenige Tage später fiel den „Cara-bineros“ ein junges Paar in einem Austin-Mini auf. Sie war Maria An-gelica Fanne (25), Soziologieprofessorin an der katholischen Universität. In ihrem Besitz fand die Polizei die Autopapiere des beraubten Allel. „Führer“ dieses „Comando 16 de Julio“ ist Arturo Hoffman. Die chilenische Zeitschrift „Ercilla“ hat aus ihren Archiven Unterlagen über den Beginn der deliktiven Tätigkeit Hoffmans ausgegraben. Mit 18 Jahren war er im Jahre 1942 Führer einer nazistischen Terrorgruppe, die auch wegen zwei Mordüberfällen angeklagt war. Er gab auch zu, „auf höheren Befehl“ die Ermordung des damaligen Präsidenten Arturo Ales-sandri geplant zu haben. Jahre später leitete er die Fabrikspolizei des großen Textilunternehmens „Yarur“. 1957 wurde er beschuldigt, an der Inbrandsetzung des dortigen Gewerkschaftslokals beteiligt gewesen zu sein und verschwand auf zehn Jahre nach den USA. Von dort kehrte er als angeblicher Linksradikaler zurück und trat in die Sozialistische Partei ein. Die Opposition behauptet, daß er dann Sekretär der sozialistischen Abgeordneten Laura Allende — einer Schwester des Präsidenten — und später des Senators Adonis Sepülveda gewesen sei. Bei seiner Verhaftung bekleidete er den Posten des zweiten Chefs der Wirtschaftskontrollbehörde DIRINCO, in den er von der sozialistischen Regierungspartei eingesetzt worden war.

Weit wichtiger als die drei erwähnten Guerillagruppen ist die früher illegale MIR („Movimiento de Izquierda Revolucionaria“ — „Linksradikale Bewegung“). Ihr wurden zahlreiche Terrorakte, u. a. als Stadt-guerilla, zugeschrieben. Jetzt wird sie als Anstifterin zahlloser illegaler Streiks und willkürlicher Landbesetzungen — im Widerspruch zu den Normen des Agrarreformgesetzes — bezeichnet und ist die Ursache für die Bildung von Selbstschutzorganisationen, vor allem auf dem Lande. Allende hat bei seinem Amtsantritt 43 verurteilte Aktivisten der MIR begnadigt; diese linksradikale Bewegung ist seither „legal“.

Ob Allende dem Druck von rechts und von links gleichzeitig standhalten kann oder nicht, bleibt abzuwarten. Doch dürften dafür vor allem wirtschaftliche Faktoren ausschlaggebend sein. Durch die ungeordnete Requisition und Intervention zahlloser Betriebe, die Desorganisation in den Bergwerken und Fabriken, die Erschöpfung der Devisenvorräte, die Ausdehnung des schwarzen Marktes, den alarmierenden Fall des internationalen Kupferpreises und die Sperre der internationalen Kredite aus dem Westen nähert sich die chilenische Wirtschaft immer mehr einem kritischen Punkt.

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