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Eugene Ionesco: Heimatland Mitteleuropa

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Der rumänischstämmige Schriftsteller Eugene Ionesco über seine (mittel-)europäische Vision.

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Der rumänischstämmige Schriftsteller Eugene Ionesco über seine (mittel-)europäische Vision.

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Die Franzosen, geprägt von Jahrhunderten der Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und den Habsburgern, haben es zu guter Letzt erreicht, dieses Reich, das in Wahrheit ein Staatenbund war, zur Strecke zu bringen — wodurch das europäische Gleichgewicht zerstört wurde —, und zwar durch die Verträge von 1918 und 1919 und die Aufteilung auf verschiedene Staaten, die einander zum Teil feindlich gesinnt waren, wie es jedenfalls bei Rumänien und Ungarn, aber selbst bei Jugoslawien der Fall war.

So war aus verschiedenen Gründen die österreichisch-ungarische Monarchie nicht mehr imstande, ihre so wichtige Aufgabe als Schild zu spielen, wodurch Deutschland und Rußland eine totalitäre Dominanz gewannen. Dieses Reich war nämlich nicht nur ein Mosaik des Geistes, das auseinandergefallen ist, es hinterließ auch eine politische Leere, denn das tatsächliche und moralische Bestehen dieses historischen Gebildes blieb unersetzbar.

Während sich die Menschen im Westen vor allem mit der Psychologie des Menschen und in der Literatur mit seinen Lastern beschäftigten, erspürten Franz Kafka und Jaroslav Hasek — und später Ödön von Horvath — das Herannahen des Totalitarismus in Europa, im Westen, in der Welt. Der französische und westliche Intellektualismus hatte seine Seele schon dem Bolschewismus und den verschiedenen Sozialismen verkauft. Diese haben uns jene Tyranneien und Katastrophen beschert, die wir mittlerweile kennen. Diese Einsicht ist noch gar nicht so alt, sie offenbarte sich erst, als die Tyranneien im Gegensatz zu ihren scheinheiligen Ideologien in einen Sozialismus mündeten, der wohl antisozialer nicht sein kann.

Ich bin weder Historiker noch ein Mann der Politik, sondern ein einfacher Schriftsteller. Dennoch kann jedermann, der seine fünf Sinne beisammen hat, die Wahrheit einer europäischen Leere, des Fehlens eines geistigen Rahmens erkennen, es sei denn, er ist ein fanatischer Anhänger des Panslawismus oder ein naiver Optimist, der in die Falle des Pazifismus geraten ist.

Man findet eine gewisse offenkundige geistige Verwandtschaft in der Literatur, der Kunst, der Musik, zwischen all den Intellektuellen, die diesem gemeinsamen Raum, diesem Mitteleuropa angehören. Gestatten Sie mir, mich als Beispiel zu erwähnen: Ich kann wohl sagen, daß jener Preis (österreichischer Staatspreis für europäische Literatur), den man mir vor einigen Jahren in Wien verliehen hat, mich noch mehr in dem Gefühl bestärkte, daß ich ein Teil dieser unvergleichlichen Zivilisation war. Und jene, die mir den Preis zuerkannten, hatten begriffen, daß meine Werke zwar intellektuell Frankreich, kulturell aber auch jenem großen geistigen Raum der Mitte gehörten.

Dieser geistige Raum, diese Kultur, diese Zivilisation waren nicht ausschließlich österreichisch oder ungarisch, sondern auch polnisch, rumänisch, tschechisch, kroatisch. Natürlich gab es Querbeziehungen, gegenseitige Abhängigkeiten, und vor allem hat auch das kulturelle Übergewicht der französischen Zivilisation seinen Einfluß auf ganz Europa und auf die ganze Welt ausgeübt. Trotz meiner rumänischen Abstammung stehe ich doch tief in der Schuld der französischen Kultur.

Dennoch war es Prag, von wo aus die Reformen etwa der Sprachforschung und des Strukturalismus ihren Ausgang genommen haben, Prag, eines der großen Zentren von Mitteleuropa — wenn mir diese Kennzeichnung gestattet ist.

Die Psychologie ist heute nicht einfach nur mehr analytisch, sondern sie wurde zur Durchleuchtung der Tiefen der Seele. Freud, der Wiener, hat uns entdeckt; Freud, der Mitteleuropäer, hat uns — zusammen mit seinem, am anderen Ende von Mitteleuropa geborenen Schüler Jung — eine andere Wahrheit des Menschen erschlossen.

Mit Proust, Joyce und Faulkner ist der schon erwähnte Kafka einer der großen Mitbegründer der modernen, ja der zeitlos gültigen Literatur, und ich glaube, daß im Grunde genommen er der wichtigste ist, weil er jener ist, bei dem die metaphysische Dimension entscheidend ist. Sein Werk ist nämlich nicht einfach nur soziologisch oder psychologisch. Es gibt keine wahrhaft große Kunst oder Literatur, die nicht von religiösen oder metaphysischen Quellen gespeist ist, denn es gibt keine große Kunst, die sich nicht dem Problem der letzten Ursachen stellt.

Noch einmal wiederhole ich es: die großen Künstler im Westen haben sich vor allem mit Problemen der Literatur, der Sprache, der Politik beschäftigt, die jedoch alle nicht zu den höchsten Ursprüngen vorstoßen, wo das menschliche Schicksal entweder auf komische oder tragische Art, wie etwa bei Kafka, durchleuchtet wird. Nach ihm hat uns der Romancier Robert Musil auf weise, fantasievolle, künstlerische, geniale Art vor Augen geführt, wie Zivilisationen Rost ansetzen, sich entblättern, scheitern, zusammenbrechen. Aber es ist unmöglich, alle großen Namen Mitteleuropas hier zu nennen. Jedes Land, ja jeder kulturelle und philosophische Raum hat nämlich seine Großen hervorgebracht und kann sich ihrer rühmen.

Ich sollte noch Männer wie Manès Sperber (Österreicher) oder Panait Istrati (Rumäne) oder Arthur Koestler (Ungar) erwähnen, sie alle, von der stupiden westlichen Intelligentsia in Frage gestellt, waren dennoch die ersten, die kommunistische und sowjetische Scheinheiligkeit durchschauten und die enorme Gefahr der Unterdrückung und Versklavung für uns, die Einwohner des Raumes zwischen Rumänien und Wien, aufzeigten. Dabei war dieser Raum an den Geist der Freiheit und des Individualismus gewohnt.

Hinzufügen muß ich noch, daß die nationale Unabhängigkeit nicht immer mit der persönlichen Freiheit des einzelnen identisch ist. Es gibt national unabhängige Länder, in denen die Diktatur über die Menschen wilde Blüten treibt. Die nationale Unabhängigkeit kann zentralistisch sein, sie kann die besonderen Gegebenheiten und die Entfaltung des einzelnen abtöten.

Es stimmt, daß dieses Reich im Zentrum Europas nach allen Richtungen aus nationalistischen Gründen aus den Nähten platzte. Ich meine aber, daß der Nationalismus eine relativ junge Strömung darstellt, die ganz von den Besonderheiten der Regionen und Provinzen innerhalb ihrer Grenzen absieht. Hier bedarf es zweifellos einer neuen Einstellung, damit Länder, Provinzen, Nationen in Zukunft kein bedrohliches Ubergewicht erlangen.

Wegen meiner rumänischen Herkunft hatte ich immer den Eindruck, daß die blutige Zwietracht, die seit Jahrhunderten Rumänien und Ungarn wegen Siebenbürgen entzweit hat, vielleicht der Ursprung des katastrophalen Auseinander- und Zusammenbrechens des föderalistischen Reichs gewesen ist. Es stimmt schon, daß andere Länder ähnliches getan haben, aber die geradezu kriminellen Zerwürfnisse, die zwischen Rumänien, Siebenbürgen und Ungarn herrschten, stellten eine der wichtigsten Ursachen für den Zusammenbruch des Staatenbundes dar.

Für mich habe ich die Hoffnung auf eine erste Annäherung in Form einer österreichisch-ungarischen Föderation. Aber: wann wird sie möglich sein? Vielleicht später einmal, da dies jetzt wohl nur ein Traum ist.

Leicht gekürzt aus der Zeitschrift „Cadmos“, Genf.

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