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Europa - die Last der Blöcke

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Während in Asien scharf geschossen wird und es allen Anschein hat, als ob die endgültige Entscheidung der beiden Rivalen Indien und Pakistan um den Besitz und Einfluß in Ostpakistan auch durch die UNO nicht aufzuhalten ist, spitzt sich die Vorentscheidung über die militärische Zukunft Europas zu. Der heiße Boden ist Asien, wo mit Blut gepokert wird — Europa scheint eine Zone des Disengagements zu werden. Nach der letztwöchigen Tagung der Außenminister der Warschauer-Pakt-Staaten und der Tagung der künftigen „Sie-, bener-Gemeinschaft“ in Brüssel stehen die Marschziele für 1972 offenbar fest.

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Während in Asien scharf geschossen wird und es allen Anschein hat, als ob die endgültige Entscheidung der beiden Rivalen Indien und Pakistan um den Besitz und Einfluß in Ostpakistan auch durch die UNO nicht aufzuhalten ist, spitzt sich die Vorentscheidung über die militärische Zukunft Europas zu. Der heiße Boden ist Asien, wo mit Blut gepokert wird — Europa scheint eine Zone des Disengagements zu werden. Nach der letztwöchigen Tagung der Außenminister der Warschauer-Pakt-Staaten und der Tagung der künftigen „Sie-, bener-Gemeinschaft“ in Brüssel stehen die Marschziele für 1972 offenbar fest.

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Dabei hat die raschestmögliche Ratifizierung des deutsch-sowjetischen Vertrages aus Moskauer Sicht Vorrang vor allen anderen europäischen Fragen. Diese Erkenntnis dürfte auch im deutschen Außenminister Scheel nach den Gesprächen mit seinem Amtskollegen Gromyko gereift sein. Die bilaterale Verankerung der Nachkriegsgrenzen soll einer multilateralen Absicherung des Status quo in Europa vorangehen und diesen Gesprächen die Richtung zeigen.

Man ist sich an Themse und Seine zweifelsohne in den letzten Monaten nähergekommen. Der von 1973 an schrittweise zu erwartende Abzug der amerikanischen Truppen und die von Moskau initiierten Gespräche über einen beiderseitigen Truppenabbau und eine Sicherheitskonferenz in Europa beschleunigten den Abbau der Animositäten der de-Gaulle- Ära.

Frankreich gibt eindeutig einer europäischen Sicherheitskonferenz vor Gesprächen über eine Truppenreduzierung den Vorrang. Paris möchte sich vorerst ein Bild über das politische Ziel der sowjetischen Aktivitäten machen. Man hat in der Seine-Metropole offenbar am wenigsten vergessen, daß Moskau bereits in einer ähnlichen Konstellation eine Sicherheitskonferenz anibot. 1954, als es kurzfristig die Wiedervereinigung gegen den Verzicht Westdeutschlands auf eine Aufrüstung und einen NATO-Beitritt anbot. Die Situation scheint um die Jahreswende 1972 nicht unähnlich.

Für Moskaus Satelliten wurde die Marschroute vergangene Woche in Warschau ausgegeben. Demnach sollen die östlichen Paktpartner das Vorfeld einer Neutralisierung Europas in multilateralen Kontakten auf bereiten. Auch in der Frage des Truppenabbaus, die Moskau vorerst zurückgestellt hat, zeichnet sich der Trend ab, in Einzelverhandlungen größere Nachgiebigkeit im Westen zu erzielen. Inwieweit man im Kreml bereits eine Einigung über die Köpfe der Beteiligten hinweg mit Washington sucht, läßt sich nur erahnen.

London forciert daher atlantische Vorgespräche mit dem Wunsch, den Westen auf einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz in seinem Vorgehen geeint zu sehen. An der Themse scheint man für diese Abstimmung der außen- und verteidigungspolitischen Aktionen bereits das geeignete Forum gefunden zu haben. Die WEU, die seit 1955 bestehende, sogenannte Westeuropäische Union, nimmt die bevorstehende „Siebener-Gemeinschaft“ — bei einem Beitritt Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt — vorweg. In militärischer Hinsicht umgeht sie die Schwächung der NATO seit dem Austritt Frankreichs.

Seit dem Besuch Schumanns in London herrscht offenbar Übereinstimmung, daß man das außenpolitische Feld gegen Osten nicht Brandt und Bahr allein überlassen dürfe und verspricht sich in einer westeuropäischen Einigung die einzig reale Möglichkeit, Ostpolitik ohne Konzessionen betreiben zu können.

Die Ausgangsposition, in der sich beide Hegemoniebereiche, vor allem aber die Militärallianzen, gegenüberstehen, ist durch eine mehrfache Asymmetrie gekennzeichnet. Zwischen dem Rhein und dem Pruth sind zur Zeit mehr als zwei Millionen Soldaten konzentriert, davon mehr als die Hälfte auf dem Gebiet der beiden deutschen Staaten. 26 NATO-Divi- sionen mit 6600 Kampfpanzern ste hen im vorgezeicbneten Raum 57 Großverbänden des Warschauer- Paktes mit zirka 13.500 Panzerfahrzeugen gegenüber. Wenngleich verschiedene Faktoren den westlichen Verbänden einen höheren Multiplikator in der Kräfterelation verleihen, darf man nicht außer Betracht lassen, daß ln den westlichen Militärbezirken der Sowjetunion weitere 29 Kampfverbände, mit einer Kampfkraft, die jener der westlichen Streitkräfte in Mitteleuropa gleichzusetzen ist, disloziert sind. Ein Umstand, der beim Versuch, eine Abrüstungszone festzulegen, nicht unbeachtet bleiben darf. Das Mandat zu Gesprächen über eine Truppenreduktion an den früheren Generalsekretär der NATO, Brosio, spricht von einer Zentralregion, die nicht nur die beiden Deutschland, sondern den Raum zwischen den Alpen und Karpaten umfassen soll. So lange es in den Bemühungen um einen Truppenabbau nur gelingt, eine örtliche Reduktion zu erzielen, befindet sich der Westen durch die geopolitisch ungünstige Asymmetrie Europas in einer mißlichen Lage. Ein Rückzug der sowjetischen Truppen hinter den polnischen Grenzfluß Bug käme einem Abzug der amerikanischen Stationierungskräfte aus Europa gleich. In dieser Lage wäre es für den Kreml ungleich einfacher, trotz möglicher gegenseitiger Inspektionsverfahren, Truppen unbemerkt in den osteuropäischen Einflußbereich zu schleusen. Die Amerikaner müßten im Gegenzug auf den aufwendigen Lufttransport eines „Big-Lift“ zurückgreifen und sich der Gefahr aussetzen, damit den Konflikt endgültig auszulösen.

Trotz aller Beteuerungen, die „militärische Haut“ nur mit Höchstpreisen zu veräußern, müssen sich die westlichen Regierungen des Drucks bewußt sein, den eine in Entspannungsillusionen erzogene Öffentlichkeit auf sie ausüben könnte. Die Gefahr ist groß, daß unbemerkt die Last der militärischen Blöcke auf eine schiefe Ebene gerät. Wie bei einem Fernlastzug muß bereits vor der Talfahrt der erste Gang eingelegt werden. Später bekommt man ihn kaum mehr hinein.

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