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Europa im Visier

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Einfallslosigkeit kann man dem KPdSU-Sekretär Michail Gorbatschow wirklich nicht vorwerfen. Während er dem US-Unterhändler Paul Nitze und dessen Expertenkommission die kalte Schulter zeigt, entwickelt der sowjetische Parteichef eine „Zuk-kerbrof'-Strategie für Europa. Das lukrative Wissenschaftsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion ist sicherlich ein Vorstoß in diese Richtung. Die Kremlführung geht weiter und redet sogar von einem „gemeinsamen Haus Europa“.

Doch worin unterscheidet sich die Europapolitik Gorbatschows von der Politik seiner Amtsvorgänger? Die Frage kann auch anders gestellt werden: Was fasziniert die Europäer an Gorbatschow, wenn man seine publikumswirksame Oberflächlichkeit, seine graumelierte, fast väterlich wirkende Bonhommie, einmal beiseite läßt?

Was ist es, das erfahrene Ost-West-Experten immer wieder in den Bann seiner „Friedens- und Abrüstungsvorschläge“ zieht, selbst dann, wenn sie sich als geschickt verpackte Propagandavorstöße entpuppen?

Eines ist gewiß: Wenn es dem Abrüstungskünstler Gorbatschow heute mit Erfolg gelingt, auf dem Klavier westeuropäischer Friedenssehnsüchte zu spielen, dann in erster Linie deshalb, weil in der Vergangenheit in be-zug auf die Sowjetunion immer wieder die falsche Frage gestellt wurde. Die Frage lautet: Ändert sich das Sowjetsystem? Dabei lag die Betonung stets am System und entsprang oft nur unserem Wunschdenken.

Unser Bild von der Sowjetunion war immer schon voller politi-, scher Fehlinterpretationen. Ein krasses Beispiel dafür bietet Lion Feuchtwangers Buch „Moskau 1937“. Darin schrieb Feuchtwan-ger, selbst auf der Flucht vor den braunen Bütteln und auf dem Höhepunkt stalinistischer Säuberungen, der „Sowjetstaat habe einen bemerkenswerten Teil des Weges zur sozialistischen Demokratie“ zurückgelegt. Heute sind wir gegen solche Fehlanalysen gefeit, hoffentlich. Es gibt aber noch genug „Wunschbilder“, denen wir frönen, wenn es um das Gesamtbild der UdSSR geht.

Machen wir uns nicht selber etwas vor, indem wir auch der kleinsten Presseerklärung Gorbatschows den breitesten Raum widmen, gleichzeitig aber zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, die in der UdSSR täglich passieren, außer acht lassen? Wie viele von uns wußten schon, daß die katholische Kirche Litauens vor wenigen Tagen einen verzweifelten Appell an Gorbatschow richtete, die inhaftierten litauischen Priester freizulassen? Ist das nicht ein Beweis dafür, daß sich das Sowjetsystem in all diesen Jahren kaum geändert hat?

Doch während das System nach wie vor dieselbe Starrheit aufweist, ändert sich die sowjetische Politik gegenüber Europa. Die in der Gromyko-Ära geprägte „Amerika-zuersf'-Haltung wird immer mehr von einer Taktik der „Peitsche“ gegenüber der westlichen Führungsmacht verdrängt. Folgende These wurde von Alexander Jakowlew, dem Leiter der Propagandaabteilung des ZK aufgestellt: „Drei Hauptzentren interimperialistischer Rivalitäten treten heute zutage: USA, Westeuropa und Japan.“ Das Ja-kowlewsche Modell nimmt zwar eine antiamerikanische, gleichzeitig aber eine quasi proeuropäische und projapanische Position ein. Das vom 27. Parteitag angenommene außenpolitische Programm (das sogenannte Gorbatschow-Programm) hat das Ja-kowlewsche Modell voll und ganz übernommen.

Auf der anderen Seite bleibt das primäre Ziel der Außenpolitik Moskaus das Leninsche Prinzip.^ wonach es gilt, die „Rivalitäten“ zwischen den „kapitalistischen Zentren“ für die Interessen des Sowjetstaates auszunützen. Deshalb wurde Gorbatschows Abrüstungspolitik von der Sowjetpropaganda zur „einzigen wahren Friedenspolitik“ hochstilisiert.

Daß man sich durch Aufrüstung militärische Vorteile verschaffen kann, steht fest. Durch Abrüstung ist nämlich dasselbe Ziel erreichbar, vorausgesetzt man hat einen schwächeren Partner vor sich, der aus innen- oder außenpolitischen Gründen genötigt ist, einen unvorteilhaften Vertrag zu unterzeichnen. Auf europäische Verhältnisse übertragen, ließe sich folgende These aufstellen: Gelingt es Moskau, in Europa separate Abrüstungsverträge ohne Beteiligung Amerikas abzuschließen, dann ist das wesentlichste Ziel der sowjetischen Außenpolitik erreicht. Was dann für die Europäer unterm Strich bleiben würde, ist nicht schwer zu erraten: eine schwache und zersplitterte westeuropäische Verteidigungsstruktur, gelähmt von der enormen Ubermacht der sowjetischen Landstreitkräfte.

Was bei Gorbatschows „Euro-papolitik“ überrascht, ist die Vertrautheit, mit der man in Moskau an die innereuropäischen Probleme herangeht.

Dabei machen sich die Sowjetführer oft den Umstand zunutze, daß viele Europäer ihre Friedenserwartungen einfach in die Abrüstungspolitik Gorbatschows hin-einprojizieren und sich dabei nichts denken.

Die auffallende Vertrautheit der Sowjets mit Europa hat schließlich noch einen Grund: Wir kennen Rußland, dessen Sprache und Kultur, nur mangelhaft, die russische Intelligenz die Eigenheiten Europas dagegen sehr gut. Diesen Vorteil kann Gorbatschow für seine „Europapolitik“ weidlich ausnützen.

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