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Europa müßte sich eigentlich schämen

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Warum fliehen die Albaner - warum immer noch? Es sind ja nicht mehr die Kommunisten, die Albanien allein regieren. In der Koalitionsregierung sitzen heute die Vertreter der Opposition, die dem Land Demokratie, Bürger- und Menschenrechte, Marktwirtschaft und tatsächlichen Fortschritt versprochen haben. Auch wenn das Wahlresultat vom 31. März in diesem Jahr nicht den demokratischen Kräften die Mehrheit gab, so war es doch die Parole „Demokratie und Freiheit" der Opposition, die das ganze Land in einen euphorischen Zustand versetzt hatte.

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Warum fliehen die Albaner - warum immer noch? Es sind ja nicht mehr die Kommunisten, die Albanien allein regieren. In der Koalitionsregierung sitzen heute die Vertreter der Opposition, die dem Land Demokratie, Bürger- und Menschenrechte, Marktwirtschaft und tatsächlichen Fortschritt versprochen haben. Auch wenn das Wahlresultat vom 31. März in diesem Jahr nicht den demokratischen Kräften die Mehrheit gab, so war es doch die Parole „Demokratie und Freiheit" der Opposition, die das ganze Land in einen euphorischen Zustand versetzt hatte.

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Warum also veranlaßt die Tatsache, daß es die demokratischen Kräfte sind, die ganz wesentlich zur Gestaltung der Politik Albaniens heute beitragen, die Menschen des Landes nicht dazu, die Ärmel aufzukrempeln und sich und Albanien aus der Krise herauszuholen und es neu und besser aufzubauen? Ganz sicher gibt es darauf nicht nur eine Antwort, sondern viel eher ein Bündel von Erklärungen.

Am unbefriedigendsten ist jene, daß Gerüchte, die in böser Absicht von den anti-reformerischen Kräften in Albanien in Umlauf gebracht wurden, deren Ziel es ist, das Chaos zu vertiefen, um dem Reformkurs der Partei den Todesstoß geben zu können -Gerüchte, denen zufolge ausländische Schiffe, die im Hafen von Dürres anlegen, albanische Arbeitskräfte anheuern würden, verantwortlich dafür seien, daß Tausende Jugendliche nach Dürres kamen, um sich einen solchen Arbeitsplatz zu erobern. Oder daß diese Gerüchte, von den bösen Serben ausgestreut wurden, ebenfalls mit dem Ziel Albanien zu destabilisieren, um auf diese Weise eine albanische aktive Unterstützung für die „Brüder und Schwestern" im serbischen Kosovo gegen den Terror der Serben und die drohende Ausrottung oder Vertreibung, unmöglich zu machen. Unbefriedigend wäre eine solche Erklärung, weil Gerüchte, von wem auch immer verbreitet, nur dann Wirkung haben können, wenn sie auf fruchtbaren Boden fallen.

Es liegt auf der Hand, daß es in erster Linie der konkrete Hunger ist, der sie vertreibt, der ihnen auch den Abschied von der Groß-Familie leicht macht, denn es bleibt ihr ein Esser weniger. Müßten sie aber nicht eher hoffen, daß diese Phase vorübergehen werde, weil Albanien ja nicht mehr isoliert, sondern ein international anerkannter Teil eines florierenden Europa ist? Haben nicht der amerikanische, der deutsche Außenminister und andere westliche Spitzenpolitiker Tirana besucht und der jungen Demokratie damit ihre Anerkennung bewiesen? Und haben sie nicht alle - einschließlich der mächtigen EG -sofortige humanitäre Hilfe und finanzielle Unterstützung und Zusammenarbeit versprochen und angekündigt? Das alles konnten die Politiker der albanischen Opposition zwar auf ihr Konto schreiben - nur: Es dürfte den Menschen in Albanien nicht entgangen sein, daß bisher keinerlei Hilfe von irgendwelcher Bedeutung für den Aufbau des Landes, für die Überwindung der Versorgungskrise von allen diesen freundlichen Staaten eingetroffen ist. Und warum ist das so? Wegen der bürokratischen Schwierigkeiten könne Weizen erst im Herbst nach Albanien geliefert werden, weil die albanische Seite keine konstruktiven Anfragen im Wirtschaftsbereich gestellt habe, weil, weil... so hören wir in unseren Nachrichten und von unseren Experten.

Wenn heute junge Albaner ihr Leben riskieren, um die Küste Italiens zu erreichen, wenn sie ihr Leben riskieren, um nicht nach Albanien zurückgeschickt zu werden, so wählen sie das erste nicht mehr mit der Illusion, in Italien das Paradies der TV-Welt zu finden, und lehnen das zweite ab nicht nur aus Angst, sondern weil sie keinerlei Hoffnung haben, daß sich ihr Leben dort lebenswert gestalten könnte. In den Westen gehen sie mit der Bereitschaft, durch harte Arbeit etwas zu erreichen - zu Hause wissen sie aus Erfahrung, daß auch harte Arbeit ihnen nichts, aber rein gar nichts bringt. Ihnen nicht und ihren Familien nicht.

Schrecklich sind die Bilder auf unseren Bildschirmen von nackten, mageren jungen Menschen, die sich in tätliche Auseinandersetzungen mit den italienischen Polizisten einlassen. Schrecklich dann wieder die Bilder, wie die gleichen nackten Menschen geprügelt werden bei ihrer Ankunft in der Heimat. Im Kosovo gibt es täglich solche Bilder, nur sind die Albaner dort nicht nackt, wohl aber unbewaffnet den bis an die Zähne bewaffneten Serben ausgeliefert. Was für ein Welt-und Staatsbürgerbewußtsein wird die Folge solcher Erfahrungen sein, bei einer Generation, die Mitträger und -gestalter des künftigen Europa zu sein hat?

Unmittelbaren Anlaß zum Schämen, ja, zum Schämen, gaben diejenigen Albaner im stinkenden Stadion in Bari, die sich nicht durch „kleine Geschenke" der italienischen Behörden bestechen ließen, sondern ihre Annahme verweigerten und ebenso ihren Abtransport nach Albanien. Was für ein Zynismus hat die Italiener dazu veranlaßt zu glauben, daß ein Paar Jeans, modische Sandalen oder 500 Schilling (umgerechnet) die Vorstellung von einem Leben nach eigener Wahl ersetzen könnten?

Ob Albaner, die Erfahrungen als Flüchtling in Italien hinter sich haben, noch jemals irgend jemandem Vertrauen entgegenbringen werden, und was sie machen werden mit sich, ihrer Umgebung, ihrem Staat ohne solches Vertrauen, bleibt abzuwarten. Ob diese Frage die europäischen Politiker interessieren wird, bleibt ebenso abzuwarten. Mit Italien jedenfalls werden sie alle zufrieden sein - hier wurde die schmutzige Arbeit gründlich geleistet, die alle unsere Länder davor bewahren wird, jemals für albanische Flüchtlinge eine Attraktion zu sein. Die Dankbarkeit der Kollegen ist den italienischen Politikern sicher.

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