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Europa muß sich in Freiheit bewähren!

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Wie können wir ohne Krieg leben und in Frieden weiter frei bleiben? Der Autor, von 1972 bis 1978 westdeutscher Verteidigungsminister, versucht Antwort darauf zu geben.

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Wie können wir ohne Krieg leben und in Frieden weiter frei bleiben? Der Autor, von 1972 bis 1978 westdeutscher Verteidigungsminister, versucht Antwort darauf zu geben.

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In dieser Spanne ohne Krieg hat Europa ungeheure Veränderungen erlebt. Man findet kaum einen Lebensbereich, der in den gut drei Jahrzehnten nicht einen Wandel erfahren hat, für den es keinen Vergleich gibt. Es geschieht selten, daß man diese Entfaltung unseres Lebens in Freiheit und ohne Krieg als ein Privileg unserer Zeit einmal rühmen hört...

Wenn man prüfend weiterblickt, kann man doch wohl auch nicht sagen, daß es in Europa keine ernsthaften Probleme und

Spannungen gegeben hat, die zum Krieg hätten führen können. Im Gegenteil, es gab sie so zahlreich, daß für sie ein neuer Begriff, der des Kalten Krieges, erfunden wurde...

Was sich wirklich gewandelt hat, das ist der Sinn des Krieges mit solchen Waffen, der Sinn, sie in einem Kriege gegeneinander einzusetzen. Das hat sich verändert, und die Veränderung ist denen bewußt, die über die Gewalt

zur Vernichtung gebieten...

Während des Zweiten Weltkrieges wurden über dem Gebiet des damaligen Deutschen Reiches eine Million und sechshunderttausend Tonnen Sprengstoff abgeworfen. Damit wurde das Land in weiten Teilen bis auf seine Grundmauern abgerissen.

Wenn man sich vorstellt, diese Zerstörung wäre damals nicht über Jahre verteilt, sondern in einer einzigen Nacht, auf einen Schlag über unser Land gekommen — ich vermute, am Tage nach dieser Nacht wäre vieles ganz anders geworden, als es verlaufen ist.

Stellen wir uns nun bitte vor, irgendwo läge ein U-Boot und es würde seine Zerstörungskraft in einer Nacht über Europa aus- schütten. Das sogenannte U-Boot, das die Größe eines Kreuzers von früher hat, hätte 24 Raketen an Bord. Jede Rakete hätte 10 Sprengköpfe, von denen jeder unabhängig und zuverlässig auf sein Ziel geführt werden kann, und jeder Kopf einer Rakete hätte eine Sprengkraft von 200.000 Tonnen herkömmlichem Sprengstoff. Dann ergäbe sich nur von diesem einen „Boot“ ausgehend eine Sprengkraft von 48 Millionen Tonnen herkömmlichem Sprengstoff.

Das wäre in einer Nacht über Europa 30mal die Sprengkraft aller Bomben, die im Zweiten Weltkrieg über Deutschland äbgewor- fen wurden oder 2400mal die Wirkung der Bombe von Hiroshima. Und was von diesem einen Boot ausgeht, ist natürlich nur ein Bruchteil der Macht, die einer Seite zu Gebote steht.

Das ist die Wandlung im Charakter dessen, was wir nicht mehr zutreffend mit dem Wort „Krieg“ bezeichnen. Es ist ein Abgrund, der sich vor der Menschheit auftut, und es ist zu verstehen, daß bei vielen Menschen Angst aufkommt, wenn sie daran denken.

Und doch: Die Unruhe, die über die Menschen kommt, darf uns nicht verwirren. Die Übermacht der Zerstörungskraft, die dem Menschen zugewachsen. ist, bewirkt etwas, was die Menschheit aus freier Einsicht, aus Vernunft und Moral, oder weil sie eben Kultur hat, bisher jedenfalls nicht vermocht hat:

Beispiel West-Berlin

Sie hat den Krieg trotz vielfältiger Probleme, trotz politischer und ideologischer Gegensätze, trotz Spannungen und Hochspannungen als Mittel der Politik jedenfalls bisher ausgeschlossen; sie müßte es auch künftig vermögen, ihn auszuschließen, weil sie ihn unführbar und ungewinnbar gemacht hat.

Wenn diese Schlußfolgerung richtig ist, dann dürfen wir nicht zuviel Gedanken und Energie darauf verwenden, was geschähe, wenn es doch zu einem Krieg käme...

Man muß aber gar nicht zuerst an Krieg denken. Es ist doch nicht wenig, was einem Volk, das unabhängig ist und in Freiheit lebt und das gut lebt, auch unterhalb der Schwelle eines Krieges drohen kann: Abhängigkeit, Erpreßbar- keit, sich unter den Willen des Stärkeren unterordnen müssen.

Das ist nicht Theorie, dafür gibt es Beispiele genug. Die Sowjetunion hatte West-Berlin unter Druck gesetzt. Sie hatte mit einer Blockade seine Zugangswege ge

sperrt und versucht, die Stadt auszuhungern.

Wenn die Sowjetunion damals in Berlin nicht weitergegangen ist, wenn sie keine stärkeren Mittel eingesetzt hat, um Berlin in ihre Gewalt zu bekommen, dann deswegen, weil sie dann das Risiko eines großen Krieges hätte ein- gehen müssen. Nichts anderes hat Berlin damals die Freiheit bewahrt.

Wer unter solchen Umständen Pazifismus und Waffenlosigkeit predigt und es nicht überall kann, der würde dort, wo er es kann und darf, wenn er Erfolg hätte, die Gefahr der Unterlegenheit und am Ende die Unterwerfung ohne Krieg riskieren.

Wir wären doch alle Toren, wenn wir nicht engagierte Pazifisten wären, wenn es eine Chance

gäbe, ohne Waffen in dieser Welt zu leben.

Diese Zusammenhänge sollten überall auch in den christlichen Kiręhen bedacht werden... Wer politische Verantwortung für ein Volk trägt, der hat die Pflicht, dafür zu sorgen, daß niemandem auf eine Wange geschlagen wird, auch nicht auf die erste.

Es gibt auch keinen Weg, die Last, die sich für die freien Völker daraus ergibt, auf andere abzuwälzen. Das gilt auch für die Bündnismächte untereinander ...

Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Amerikaner schon bereit sein könnten, jede Nachlässigkeit der Europäer auf dem Gebiete der konventionellen Rüstung mit Atomwaffen auf zu wiegen. Und ich kann mir auch nicht denken, daß ein amerikanischer Arbeiter bereit sein könnte, Steuern zu zahlen, um seine Regierung in die Lage zu versetzen, einen militärischen Aufwand zu bezahlen, der eine Lücke auszufüllen hätte, weil die europäischen Arbeiter ihren Regierungen die Mittel verweigern würden, die sie nötig haben, um den europäischen Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit aufzubringen ...

Ob der demokratische Bürger aus freier Einsicht immer genügend Kraft freigibt, die seine Sicherheit gewährleistet, davon wird in der Konfrontation zweier Systeme für die Wahrung der Balance zwischen ihnen, besonders aber in einer wirtschaftlichen Depression, viel abhängen.

Ich sage das ohne jeden Zynismus: Der Leistungsfähigkeit der Völker des Westens wird etwas zugemutet, was der Leidensfähigkeit der Völker des Ostens entspricht. Militärische Balance ist nötig, aber wir dürfen unsere Vorsorge und unsere Arbeit für die

Sicherung des Friedens nicht allein darauf gründen.

Wenn der Krieg so schlimm und so unvernünftig ist, dann darf man auch bei ausgewogenen Rüstungen nicht in seiner Nähe, nicht knapp an der Grenze leben wollen, hinter der er beginnen kann. In einer Atmosphäre, in der nur noch der berühmte Funke nötig ist, lebt man gefährlich.

Deshalb ist die Verbesserung der Atmosphäre durch die Verminderung von Spannungen eine vorrangige und ‘eine immerwährende Aufgabe der Politik...

Die Rote Armee ist keine Armee im Wartestand, sondern sie ist eine Sperrklinke zur Wahrung des kommunistischen Besitzstandes. Die Sowjetunion denkt nicht an den großen Krieg mit dem ebenbürtig gerüsteten Westen.

Die Sowjetunion will aber, daß die Welt kommunistisch wird und sie glaubt daran, daß der Untergang des Kapitalismus und die kommunistische Weltrevolution ohne Krieg erreichbar sind. Sie geht deshalb nicht das Risiko und die Gefahr der eigenen Vernichtung mit einem Krieg für etwas ein, was sie ohne Krieg zu erreichen glaubt...

Sie sucht Expansion ohne Krieg, das ist Politik, bei der sie ihr eigenes Risiko klein hält und es einschätzen kann. Dem muß der Westen sich stellen.

Dazu braucht der Westen eine Führungsmacht, die sich ihrer Rolle bewußt ist und die führt. Diese Führung muß für die Sowjetunion, wie auch für die eigenen Verbündeten, kalkulierbar sein.

Und wenn die USA führen, dann müssen sie sich ihrerseits darauf verlassen können, daß sie europäische Verbündete haben, auf die auch sie sich in der Wahrnehmung gemeinsamer Interessen verlassen können.

Der große Krieg, das ist nicht die Gefahr, die uns droht. Er wäre vielleicht eher einmal zu fürchten, wenn der Westen zu lange zuläßt, daß das Gesetz des Handelns von der Sowjetunion bestimmt wird.

Daß unterhalb der Schwelle eines Krieges zwischen Ost und West, der nicht geführt wird, mehr Völker die Freiheit verlieren und daß kein Volk sich in dieser Welt eine Insel kaufen kann, das müssen wir umso ernster nehmen. Wenn wir uns dem stellen, werden wir eine gute Chance haben, ohne Krieg zu leben und auch in Frieden frei zu bleiben.

Auszug aus einem Vortrag des jetzigen Bundestagsvizepräsidenten vor der Österreichisch-Deutschen Kulturgesellschaft am 3. Nov. 1981.

Hingewiesen sei noch auf Georg Lebers Buch „Vom Frieden“, erschienen im Seewald Verlag, Stuttgart; 336 Seiten, Ln., öS 273,60.

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