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Europa ohne Begeisterung?

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Ich wurde unlängst gefragt, wie es komme, daß sich heute die Jugend nicht mehr stark für den Gedanken eines vereinten Europa interessiere, nachdem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg dieser Gedanke in der Jugend populär war. Hat sich die Jugend oder hat sich Europa verändert?

Auf den ersten Anhieb würde ich antworten: beide haben sich verändert. Die Europafrage ist nicht mehr die gleiche wie vor 25 Jahren, als 1948 Politiker aus mehreren Ländern im Haag die Einigung Europas forderten. Und auch die Probleme, die die Jugend bewegen, sind andere geworden. Übrigens möchte ich nicht zu sehr verallgemeinern. Es ist immer schwer, zu sagen, wer und was die Jugend ist. Aus eigener Erfahrung kann ich jedoch sagen, daß in den frühen fünfziger Jahren unter der studentischen Jugend eine starke „europäische“ Strömung herrschte, die dann in den späten sechziger Jahren durch ganz andere Strömungen ersetzt wurde.

Schon nach dem Ersten Weltkrieg gründete 1922 in Wien Graf Richard Coudenhove-Kalergi die Pan-Europa-Bewegung. Ich begegnete diesem unbeirrbar für seine Idee kämpfenden und vor kurzem verstorbenen Mann zum erstenmal 1926 in Paris, wo er vom damaligen französischen Außenminister Briand zu einem Gespräch empfangen wurde. Briand unterbreitete hernach dem Völkerbund in Genf sein Projekt einer Europa-Föderation. Iri^der^“ Kommission, die der Völkerbund zum Studium dieser Anregung einsetzte, war die Schweiz durch ihren damaligen Außenminister Motta vertreten. Es kamen Hitler und der Krieg . ..

Ich will mit dieser Reminiszenz zweierlei sagen: der Europagedanke beschäftigte uns in unserer eigenen Jugend, und die Tatsache, daß dieser Gedanke bereits vor einem halben Jahrhundert von verantwortlichen Staatsmännern ernsthaft beraten wurde und seither nicht von der Tagesordnung verschwunden ist, deutet darauf hin, daß es sich um ein echtes politisches Anliegen handelt. Nebenbei bemerkt, war in den zwanziger Jahren Bruno Kreisky Führer der Jugendgruppe in der Wiener Pan-Europa-Organisation, wobei bereits damals die Jungen als „Fortschrittliche“ in einem gewissen Gegensatz zu den konservativen Auffasssungen Coudenhoves standen.

Zweifellos hat es unter der politisch interessierten Jugend nicht an Begeisterung gefehlt, als Robert Schuman, damals französischer Außenminister, 1950 die Europäische Kohlen- und Stahlgemeinschaft als ersten Schritt zu einer Konstruktion Westeuropas ins Leben rief. Jean Monnet war im Hintergrund der Planer der europäischen Wirtschaftsintegration. Da die britischa Regierung sich weigerte, dieser Institution beizutreten, entstand sie als Gemeinschaft der „Sechs“: Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und die drei Benelux-Län-der. Im Vertrag von Rom haben dann die gleichen Staaten die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit Sitz in Brüssel gegründet. Sie ist bekanntlich unlängst durch den Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks auf I neun Staaten erweitert worden.

Alle demokratischen Staaten Westeuropas — also Westeuropa ohne Spanien, Portugal und Griechenland — sind Mitglieder des Europarates mit Sitz in Straßburg. Die Parlamente der Mitgliedstaaten entsenden ihre Vertreter in die Straßburger Versammlung, die jedoch nur beratende Funktionen hat.

Vermutlich kommt eine gewisse Abkühlung der Geister und insbesondere der Jungen diesen Institutionen gegenüber davon her, daß sie sich mit sehr nüchternen Dingen — in Brüssel ausschließlich mit Wirtschaftsfragen — befassen. Eine Zollunion ist zwar eine wichtige Errungenschaft, aber handelt es sich da wirklich um ein Vereintes Europa? Die Präambel des Vertrages von Rom, auf dem die Europäische Gemeinschaft beruht, setzt ihr wohl zum Ziel, sich auch politisch zu einigen. Die sogenannten Technokraten, die die Träger des Integrationsgedankens in Brüssel waren, huldigten dem Glauben, daß die Wirtschaftsintegration zwangsläufig zum politischen Zusammenschluß führen werde. Es bedarf aber eines politischen Entschlusses, wenn unabhängige Staaten ihre souveränen Rechte auf eine gemeinsame Föderativregierung übertragen wollen. Niemals, wurde mir in England gesagt, werde es das britische Volk dulden, daß über dem Parlament von Westminster eine europäische Regierung für England politische Entscheidungen treffe. De Gaulle sagte manchmal laut, was die anderen still für sich dachten.

Schwache: es bildet keine Nation, es ist kein Vaterland. Zwar stellte sich nach dem Zweiten Weltkrieg für Europa primär eine politische Frage, aber die Integration ist bis heute kaum über das Stadium wirtschaftspolitischer Vereinbarungen hihausgediehen. Daß man in Westeuropa nicht mehr unter sich Krieg führen kann, ist allerdings eine von allen geteilte Überzeugung geworden. Vielleicht ist es angesichts der nationalstaatlichen Struktur Europas schon viel, daß anstatt der alten auf Regierungsebene eine so enge Kooperation möglich wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten der gemeinsame Wiederaufbau und die Abwehr der sowjetkommunistischen Expansion diese Zusammenarbeit möglich gemacht. Beides ist nicht ohne amerikanische Hilfe möglich gewesen, so daß nie eine saubere Scheidung zwischen der Atlantischen Allianz und dem geeinten Europa vollzogen wurde. Aber auch das hat sich inzwischen geändert. An Stelle der Gefahr von Osten bereitet heute Amerika den Europäern Sorgen. Aus Schützlingen der Vereinigten Staaten sind sie deren Konkurrenten geworden, während die Regierung von Washington neue Partner in Rußland und in China fand. „Die Feinde werden ein wenig weniger Feinde, die Freunde ein wenig weniger Freunde“, schrieb Raymond Aron. Seit dem Teststoppabkommen von 1963 haben sich Washington und Moskau in zahlreichen Abkommen untereinander arrangiert, in der Erkenntnis, daß ein Atomkrieg zwischen ihnen unter allen Umständen vermieden werden muß.

Kann man von der Jugend erwarten, daß die Beschlüsse, die in Brüssel gefaßt werden, sie begeistern? Überdies hat die Jugend andere Sorgen, Wünsche und Ideale gefunden, die die frühere Europabegeisterung verdrängten.

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