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Europa: Schlag nach bei Friedrich Heer
Im Zentrum von Friedrich Heers historischen Arbeiten standen stets Österreich und das christliche Europa, dessen Geistesgeschichte, Kultur und Kunst er niemals müde wurde, in unzähligen Aufsätzen, Artikeln und Büchern zu beschreiben und zu analysieren.
Im Zentrum von Friedrich Heers historischen Arbeiten standen stets Österreich und das christliche Europa, dessen Geistesgeschichte, Kultur und Kunst er niemals müde wurde, in unzähligen Aufsätzen, Artikeln und Büchern zu beschreiben und zu analysieren.
Nicht weniger als neun seiner Bücher tragen die Worte Europa oder europäisch im Haupt- oder Untertitel. Darunter sind die bekanntesten: „Aufgang Europas", 1949; „Europäische Geistesgeschichte", 1953; „Europa, Mutter der Revolutionen", 1964; „Europa unser", 1977.
Europa ist für Heer, gemäß seiner allgemein dialektischen Geschichtsbetrachtung, ein einziges tausendjähriges Gespräch, eine permanente Gesprächs- und Kommunikationsgemeinschaft und als solche eine „Lebensgemeinschaft von vielen Gegnern und Gegensätzen", in der- wenn auch nur in bestimmten Teilen und Epochen seiner Geschichte, wie zu ergänzen wäre - eine offene, pluralistische, multikulturelle und multinationale Gemeinschaft errichtet wurde, sodaß: „immer mehr Menschen, Gruppen, Religionen, Völker, die zunächst als Todfeinde angesehen werden und als Teufelsdiener, leibhaftige Böse, Antichristen diffamiert und denunziert werden, langsam hereingenommen werden in den eigenen Lebensraum, hier Bürgerrecht gewinnen und oft sehr bald wichtige Fundamente neuer Gemeinschaften bilden mit ihren Todfeinden von gestern.
Alle europäischen Nationen heute sind so zusammengewachsen aus sehr verschiedenartigen Stämmen, Völkern, Klassen und Rassen."
Obwohl Heer vor allem in seiner Geistesgeschichte ein Inventar der kulturellen Kräfte des Kontinents anlegen und die unbekannten geistigen Schätze Europas bergen und wiederentdecken wollte, übersah er dabei keineswegs die vielen Schattenseiten der europäischen Geschichte. Er beschrieb in seinen Büchern immer auch das Scheitern der europäischen Kultur an ihren hohen Idealen und Ansprüchen mit seiner Kulmination im 20. Jahrhundert (dieser Geschichte und ihrem Ausgangspunkt, Österreich und Deutschland, widmete er die beiden gewichtigen Bände „Gottes erste Liebe" und „Der Glaube des Adolf Hitler", neu aufgelegt im Ullstein Taschenbuch Verlag), jene lange Folge des Imperialismus, Militarismus, Rassismus und Antisemitismus, die Heer zusammenfassend die Neurotisierung Europas nannte. Er vergaß auch nicht, darauf hinzuweisen, daß einige der wichtigsten - auch wieder heilen und unheilen - Gaben Europas und seiner Kinder, die USA und die vormalige Sowjetunion, die moderne Naturwissenschaft, Technik, Medizin, Chemie und Biologie, der ganzen Menschheit zur Verfügung stünden.
Aus all diesen Gründen plädierte er für eine kulturelle und politische Einigung Europas und der Menschheit, ohne dabei in billige, rechtslastige Europa-Ideologien zu verfallen, und trat dafür ein, das unbekannte europäische Erbe, das nach ihm für
viele Menschen wie ein Buch mit sieben Siegeln sei, wiederzuentdek-ken. Jenes Europa, das für ihn reicher an Samen, Begabungen und schöpferischen Intelligenzen war, als es selbst zu sehen wagt, und in das vielleicht am besten Heers eigene Bücher einführen können.
Für Heers politisches Engagement für ein ungeteiltes, freies Europa, am deutlichsten ausgesprochen in seinem zutiefst christlich geprägten, 1949 veröffentlichten Buch „Gespräch der Feinde", das bald darauf zu einem nur allzu leicht abfällig gebrauchten, von Heer selbst am meisten bedauerten
Schlagwort verkam, wurde er von allen selbsternannten Antikommuni-sten schärfstens angegriffen und diffamiert. Diese übersahen dabei unter anderem, daß Heers Schriften auch in Osteuropa im Samisdat gelesen wurden, und daß er in seinen Leitartikeln in der FURCHE und in anderen österreichischen Zeitschriften selbst für einen gesunden Antikommunismus plädierte, vor den Kettenreaktionen Stalins warnte, Ernst Fischer bei seinem Parteiausschluß aus der KPO verteidigte oder in einer Rundfunksendung schrieb, daß man von der KPÖ eine Öffnung nach innen und nach außen nicht verlangen könne, denn diese sei „eine außengesteuerte Partei, die in permanenten Säuberungen sich von ihrer intellektuellen Elite befreit hat". Das Buch „Gespräch der Feinde", mit dem er, wie Heer selbst anmerkte, politischen Selbstmord beging'und das ihm beinahe das Genick gebrochen hätte, wurde zwar früh in vielen europäischen Ländern, von Polen bis Spanien, gelesen und übersetzt, stieß jedoch am meisten auf Kritik und Widerstand in den deutschsprachigen Ländern.
Doch dies sind Konflikte der Vergangenheit, die verglichen mit der kulturellen und geistigen Bedeutung, vergangenen und zukünftigen Rolle Europas, für die Heers Bücher eine wichtige Quelle und Ermutigung sind, bald nur mehr historisch von Belang sind.
Von der Autorin dieses Beitrages wird Ende Oktober im Tyrolia Verlag das Buch „Friedrich Heer - Eine intellektuelle Biographie" erscheinen.
In FURCHE 39/1993 wird das Manuskript „Der Vulkan Europa ist nicht erschöpft" von Friedrich Heer erstmals veröffentlicht.
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