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Europa spricht noch mit zu vielen Stimmen

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Vor dreißig Jahren fand im Rittersaal in Den Haag der erste Europa-Kongreß statt, dessen konkretes Ergebnis die Errichtung des Europarats mit anfänglich zwölf Mitgliedsländern am 5. Mai 1949 in London war. Heute sind im Europarat 20 Mitgliedsstaaten mit 380 Millionen Einwohnern vertreten. Der parlamentarischen Versammlung des Europarats steht ein bescheidener Dienst von 48 Beamten zur Seite, das europäische Parlament der neun EG-Staaten dagegen kann die Dienste von 1150 Euro-Beamten in Anspruch nehmen, eine Folge der reichhaltigeren Mittel, über die die EG-Kommission in Brüssel verfügt.

Aufgaben und Funktionen der parlamentarischen Versammlung des Europarats in Straßburg, des europäischen Parlaments in Luxemburg, des Parlaments der westeuropäischen Union in Paris und der nationalen Parlamente unterstreichen freilich noch stets die Tatsache, daß Europa mit zu vielen Stimmen spricht. Die Parlamentspräsidenten haben sich in Den Haag darüber besorgt geäußert, doch wird es an den Parlamentariern selbst liegen, ob die verwirrenden Gesichtszüge sich in das Antlitz Europa verwandeln werden.

Um Europa mit einer Stimme, statt mit vielen sprechen zu lassen, stellt der nunmehr von allen Mitgliedsstaaten ratifizierte Akt zur ersten Direktwahl des europäischen Parlaments im

Sommer 1970 lediglich die erste Phase zur Anwendung des dritten und vierten Absatzes von Artikel 138 des EWG-Vertrages dar.

Das „einheitliche Verfahren“, von dem im dritten Absatz die Rede ist, hegt noch in weiter Ferne. Frankreich wird, anders als bei den Wahlen zur Nationalversammlung, nach dem Verhältniswahlsystem wählen, ebenso die Bundesrepublik Deutschland, wo nach einem gemischten System von Listen- und Personenwahl gewählt wird. Der Vorschlag, auch in Großbritannien nach dem Verhältniswahlrecht zu wählen, wurde vom Unterhaus verworfen. Frankreich hat eine Sperrklausel von fünf Prozent eingeführt, eine Hürde, die es in der Bundesrepublik Deutschland bereits gibt, während Dänemark sich mit einer Zwei-Prozent-Grenze für neue Parteien begnügt. Da jedem Mitgliedsstaat im europäischen Parlament nur eine relativ geringe Zahl von Sitzen zusteht, werden viele kleine Parteien, die in den nationalen Parlamenten oft eine gewichtige Rolle spielen, im europäischen Parlament nicht vertreten sein.

So wenig man die bisherige Zusammensetzung des europäischen Parlaments der 198 indirekt gewählten Abgeordneten als undemokratisch bezeichnen kann, so sehr haben doch jene wesentlichen Elemente gefehlt, welche die parlamentarische Demokratie zur lebendigen Wirklichkeit machen: das emotionale Element einer Direktwahl, die Freude über den Wahlsieg und die sportliche Hinnahme ■ einer Wahlniederlage. DiestärkeFe Beteiligung der Bürger in der Neunergemeinschaft an der Landwirtschaftspolitik, an der Industrie- und Arbeitsmarktpolitik und - demnächst - an der Währungspolitik wird durch die Direktwahl der 410 Abgeordneten erheblich gefördert werden können. Dazu muß es den größeren Parteien jedoch gelingen, die Wählermassen ab diesem Herbst so zu sensibilisieren, daß die von vielen gefürchtete geringe Wahl-beteüigung durch ein starkes Bekenntnis zur europäischen parlamentarischen Demokratie übertroffen wird.

Auf ihrem kürzlichen Treffen in Brüssel haben die zehn sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in der EG um ein gemeinsames Programm für die Direktwahl gerungen. Die Ansichten der französischen und britischen Sozialisten haben sich hierbei zwar durchgesetzt, doch ob sie sich damit zum Wählermagneten entwickeln können, wird von den Christdemokraten der „Europäischen Volkspartei“ (EVP) stark bezweifelt. Egon Klepsch, Vorsitzender der christdemokratischen Fraktion im europäischen Parlament, hat dieser Tage in Brüssel „im Interesse der Demokratie bedauert, daß die Sozialisten sich mit dem Brüsseler Programm für die Wahl im nächsten Jahr so wenig profiliert haben.“

Die Christdemokraten selbst wollen im Februar 1979 die Mehrzahl ihrer Kandidaten auf einem großen Wahlkongreß vorstellen. Unter der Leitung ihres neuen Generalsekretärs, des 54jährigen Franzosen Jean Seitlinger, wird die EVP große Anstrengungen unternehmen, um den gewonnenen Vorsprung gegenüber den anderen Parteien auszuweiten. EVP-Vorsit-zenderTindemans jedenfalls ist davon überzeugt, daß der Wert des direkt gewählten europäischen Parlaments von den Frauen und Männern abhängt, denen die Wähler ihr Vertrauen geben. Wer diese Kandidaten sind, daß wird man wohl erst nach den großen Ferien dieses Jahres erfahren.

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