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Europäische Gemeinschaft: Vom Traum zum Trauma

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Wenn das Diktum von Bundeskanzler Sinowatz: „Es ist alles sehr schwierig" auf eine Sache zutrifft, dann sicherlich auf den Zustand und die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft (EG).

In wohl allen Bestandsaufnahmen dieses Wirtschaftsbündnisses ist von Bedrohung, Krise, möglichem Zerfall und ungewissen Zukunftsaussichten die Rede. Es scheint, als ob die Staats- und Regierungschefs nur mehr von einem Gipfeltreffen zum nächsten stolpern — mit Sonntagsreden auf den Lippen, aber ohne klare Fernsicht. Einigung gibt es offensichtlich nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner: den Bruch (noch) zu vermeiden.

Sind das alles nur die üblichen Licht- und Schattenspiele in Krisenzeiten? An kreativen Vorschlägen hat es auch in jüngster Zeit nicht gefehlt, wohl aber an politischem Mut. Vertagung der Probleme auf unbestimmte Zeit schien immer noch die beste aller Lösungen.

Vor diesem Hintergrund läuft im kommenden September ein selbstgestecktes Ultimatum der Zehn ab: Bis 30. September sollen die jahrelangen Beitritts Verhandlungen für Spanien und Portugal endgültig abgeschlossen werden; die effektive Vollziehung ist für den 1. Jänner 1986 vorgesehen.

Euphorische Klänge ertönten dazu vor allem aus Paris. Frankreich vollzog einen Schwenk vom erbitterten Gegner zum Befürworter der zweiten Süderweiterung nach Griechenland 1980. Schließlich, so heißt es jetzt, gehörten doch die beiden Länder zu Europa, und politisch bestünde zweifellos die Notwendigkeit, die vor noch nicht allzulanger Zeit aus der Diktatur Entlassenen bei ihrer demokratischen Entwicklung zu unterstützen.

Aber inzwischen sind die Zeiten voller EG-Kassen und wachsenden Wohlstands, wie sie noch beim Beitritt Großbritanniens, Dänemarks und Irlands 1973 herrschten, vorbei, sind die Lorbeeren des Nachkriegswunders Europäische Wirtschaftsgemeinschaft schon fast verwelkt.

Die propagierte Vielfalt in Einheit löst sich angesichts steigender Arbeitslosigkeit, stagnierenden Wachstums und explodierender Staatsverschuldung auf in protektionistische Maßnahmen und Ausbruch nationaler Rivalitäten.

Gerade die Gipfelkonferenzen der Staats- und Regierungschefs in Athen und Brüssel in diesem Jahr haben eines deutlich werden lassen: Hier geht es um wesentlich mehr als Polit-Gezänk zwischen Margaret Thatcher und den übrigen Neun um britische Beitragszahlungen.

Zweifel kommen sogar schon auf, ob das Europäische Einigungswerk überhaupt noch zu Ende geführt werden soll.

Griechenlands Premier Andreas Papandreaou sprach es unverhohlen in Brüssel aus: „Die Europäer wären erleichtert, wenn England wieder austreten würde." Und Frankreichs Mitterrand schlug in dieselbe Kerbe, als er meinte, ein Europa der Zehn sei wünschens- aber nicht unbedingt erhaltenswert. Hinter den Kulissen redet man sogar von einer Reduzierung auf die sechs Gründerstaaten Bundesrepublik Deutschland, Italien, Frankreich und die BENELUX-Staaten.

Weitere Stichworte für die krisenhafte Situation ungelöster EG-Probleme sind:

• eine kaum mehr finanzierbare Agrarmarktordnung;

• Strukturverfall;

• Wettbewerbsprobleme auf dem Stahlsektor;

• immer enger werdende budge-täre Grenzen;

• drohende Polarisierung in wirtschaftlich stärkere und schwächere Länder wie Irland und Griechenland.

Sie lassen auch noch immer die Probleme der Zukunft in den Hintergrund treten, die schon längst ihre unheilvollen Schatten auf Europa werfen; Umweltverschmutzung und die unkontrollierte Überschwemmung mit neuen Technologien sind nur einige davon.

Trotzdem glaubt vor allem Portugal an eine positive Bilanz durch einen Eintritt in die Gemeinschaft. Tatsächlich werden nach einer Ubergangszeit die Einfuhrbarrieren der EG für die wichtigsten portugiesischen Exportartikel wie etwa Textilien fallen. Gleichzeitig fällt aber auch der Schutz für die erst aufstrebenden portugiesischen Industriezweige. Dazu kommen noch die Schwierigkeiten im Agrarbe-reich: Portugal muß nach einem EG-Beitritt die wesentlich teureren Nahrungsmittel bei der Gemeinschaft kaufen und kann sie nicht mehr billiger von Drittländern beziehen.

NATO nein, EG ja?

Für Portugal, das wohl ärmste und rückständigste Land, wird der Beitritt zweifellos trotzdem eine Belebung der Wirtschaft bedeuten.

Spanien ist in einer weitaus besseren Position, obwohl Madrid die Eintrittsbedingungen, diktiert vor allem von Frankreich, eher als ungleichgewichtig betrachtet. Vor allem die Fischerei erweist sich als großes Problem.

Spanien und Portugal erhielten die Auflage, sich zehn Jahre lang aus den von der EG kontrollierten Gewässern herauszuhalten. Portugal akzeptierte, die Spanier nicht, fischen sie doch vornehmlich im Golf von Biscaya und anderen EG-Gewässern.

Das meiste Hin und Her gibt es aber im landwirtschaftlichen Bereich. Vor allem Italien fürchtet die Konkurrenz bei Mittelmeerprodukten wie Wein und Olivenöl und besteht auf lange Ubergangszeiten.

Für Spanien bedeutet die Erweiterung zwar auch einen größeren Markt für seine landwirtschaftlichen Produkte, trotzdem ergibt sich die Frage, ob der Eintrittspreis nicht schon zu hoch ist.

Aber Ministerpräsident Filipe Gonzales bekräftigte nach dem letzten Brüsseler Gipfel einmal mehr Spaniens Bestreben zum Beitritt. Er steht unter Zugzwang und braucht Erfolge. Spaniens Austritt aus der NATO wird schon lang gefordert. Wie aber soll Gonzales seinen Landsleuten erklären, daß ein Verbleib in der NATO militärische Sicherheit bedeutet, eine wirtschaftliche Integration mit dem Westen aber nicht funktioniert?

Wesentlich pessimistischer beurteilte das britische Wirtschaftsmagazin „Ecönomist" die Erfolgsaussichten Spaniens: Mit Absicht würde Madrid den Verhandlungsabschluß über den 30. September hinauszögern, um einerseits Portugals endgültigen Beitritt abzuwarten und vielleicht noch Vorteile zu erreichen, andererseits den Parteikongreß der spanischen Sozialisten im Dezember als Anlaß für einen Tri-umpf zu nehmen.

Sollte aber nicht rasch gehandelt werden, meint der „Ecönomist", könnten die Türen für Spanien ein für allemal zu sein.

Für Gonzales geht es bei dieser Frage um kommende Wahlerfolge und das politische Uberleben, für die EG um weit mehr: Wird sie in Zukunft gestärkt auf die Weltbühne zurückkehren oder sich endgültig mit einer Statistenrolle begnügen müssen?

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