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Europaische Zuschauer

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Je mehr Kommentare, Analysen und Äußerungen von führenden amerikanischen Persönlichkeiten man liest, desto schwieriger ist es, sich von der zukünftigen Gestaltung der Außenpolitik der Vereinigten Staaten ein Bild zu machen. Für Europa und andere Weltteile ist dieser Zustand ziemlich verwirrend.

Ende April 1973 lancierte Henry Kissinger ein Dokument, das eine feierliche Erneuerung des Nordatlantikpaktes durch alle Mitgliedstaaten hätte herbeiführen sollen. Amerikas Verbündete waren ziemlich verblüfft über diese Aufforderung, eine derartige Absichtserklärung zu unterzeichnen, die am faktischen Zustand das Bündnisses und des Verhältnisses zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa kaum etwas geändert hätte. Das europäische Zögern in dieser Frage löste den großen Zorn aus, der seither immer von neuem über den Atlantik zu uns dringt und bald die Bundesrepublik (nach dem Oktoberkrieg), bald Frankreich (wegen der Erdölfrage) zur Zielscheibe wählt.

Paradox an den oft recht unbeherrschten Äußerungen Kissingers über die Europäer ist die Tatsache, daß er in seinem 1965 erschienenen Buch über die atlantische Bündnispolitik die Regierung seines Landes dafür kritisierte, daß sie zuwenig Rücksicht auf ihre westeuropäischen Verbündeten nehme, diese nicht genügend konsultiere, manchmal auch brüskiere, obgleich sie inzwischen wieder reich und stark geworden seien; die Vereinigten Staaten könnten keine Vorherrschaft mehr über Westeuropa ausüben. Kissinger verurteilte damals die amerikanische Angewohnheit, den Europäern den Altruismus der Vereinigten Staaten als Garantie anzubieten und in der Praxis über ihre Köpfe hinweg Initiativen zu ergreifen.

Während viele in den USA die Rückkehr zu einer isolationistischen Politik für unmöglich halten, ist George Kennan, ehemaliger Chef der Planungsstelle des Staatsdepartements und Botschafter in Moskau, der gegenteiligen Ansicht. Kennan hält die Furcht der Westeuropäer vor der Sowjetunion für übertrieben. Diese habe im Orient und in Asien große Schwierigkeiten und mit Osteuropa genug zu tun, so daß sie nicht daran denken könne, sich Westeuropas zu bemächtigen. Den Westeuropäern wirft Kennan vor, sie seien viel zu ängstlich, sie hätten kein Selbstvertrauen; wenn sie sich ihrer wirklichen Kraft bewußt wären, brauchten sie keine Furcht vor den Russen zu haben, aber sie wären vielleicht imstande, sich ihnen vor lauter Angst in die Arme zu werfen. In Wirklichkeit wären sie vereinigt nicht weniger stark als Rußland.

Die ungemein aktive Außenpolitik war für Nixon lange Zeit ein Mittel, um die Amerikaner von seinen persönlichen Schwierigkeiten abzulenken. Doch je größer diese Schwierigkeiten, das heißt die Drohung mit der Amtsenthebung wurden, desto dramatischer wurden Nixons und Kissingers Initiativen und Reden zur Außenpolitik. Die amerikanische Öffentlichkeit hatte nichts gegen die Anknüpfung von Beziehungen zur Volksrepublik China, nichts gegen die Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion, nichts gegen die Hilfe an Israel. Sie ist ebenso kritisch, wenn nicht kritischer als der Präsident und sein Staatssekretär gegen Westeuropa eingestellt. Aber diese Öffentlichkeit ließ sich keinen Augenblick vom Watergate-Skandal ablenken.

Das tiefe Unbehagen über die Person Richard Nixon, die Bereitschaft, sich mit einer Präsidentschaft Gerald Fords abzufinden, sind nicht bloß eine Angelegenheit oppositioneller Kreise. Der Kongreß, beide Parteien und die Massenmedien lassen nicht locker. Mit außenpolitischen Sensationen kann der Präsident nichts mehr ausrichten; die Unruhe in Amerika ist so groß, daß wir vermutlich erst nach dem Rücktritt Nixons erfahren werden, welchen außenpolitischen Kurs die Vereinigten Staaten in Zukunft einzuschlagen gedenken.

So viel ist sicher: Europa wird nicht den geringsten Einfluß auf die künftige Orientierung der amerikanischen Politik haben. In diesem Drama sind wir bloß Zuschauer.

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