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Europas Aufstieg

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In einem neuen Buch rechnet der Chef einer Moskauer Denkfabrik mit der Planwirtschaft ab. Auch die anderen hochkarätigen Autoren aus Ost und West bringen interessante Botschaften aus unterschiedlicher Perspektive.

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In einem neuen Buch rechnet der Chef einer Moskauer Denkfabrik mit der Planwirtschaft ab. Auch die anderen hochkarätigen Autoren aus Ost und West bringen interessante Botschaften aus unterschiedlicher Perspektive.

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„Eine kleine Sensation“ verkündet der Verlag: „Die Spitzenpolitiker“ aus London, Moskau, Budapest und Wien habe man, nebst hochkarätigen Experten, „zu einer einzigartigen Zusammenarbeit“ gewonnen. Das ist, mit Verlaub, eine Chuzpe: von den vier Partei- oder Regierungschefs hat man je eine Rede abgedruckt, die irgendwo 1986 oder 1988 gehalten wurde, so daß nun ihr Konterfei auf dem Deckel prangen kann.

Trotzdem ist der Leser gespannt, was Fachleute aus den vier Ländern zum Thema zu sa-

gen haben, just da die Weltaustel- lung Wien-Budapest die Gemüter bewegt oder Ungarns EFTA-Bei- trittswunsch Schlagzeilen macht. Die Herausgeber, Z-Chef Karl Vak und Bürgermeister Helmut Zilk, setzen auf neue Chancen europäischer Zusammenarbeit: kein Anlaß zu Miesmacherei.

Nicht alle Beiträge zeichnen freilich solch ein Bild. Im England-Teil kommt die Regierung eher schlecht weg. Die internationale Konkurrenzfähigkeit sei, trotz mancher Erfolge, nicht zurückgewonnen. Die gewerkschaftsfeindliche Politik führe zu neuer Polarisierung. Während in den anderen drei Hauptkapiteln die heimischen Probleme zur Sprache kommen, sind unter den britischen Beiträgen auch zwei, in denen Sowjetologen zur „Perestrojka“ mitteilen, was ohnehin jeder Zeitungsleser weiß.

Spannend lesen sich die Texte sowjetischer Reformdenker.

Oleg Bogomolow, Spezialist für Ost-West-Beziehungen, propagiert offen die Marktwirtschaft: Der Staat habe Ordnungsregeln zu setzen, Interventionen müßten marktkonform sein. Leistung müsse sich auszahlen, die Nivellierung der Einkommen aufhören. Die sowjetische Inflation — oft geleugnet, dennoch Tatsache — sei in keineswegs zufälligen Schwächen der Befehlswirtschaft begründet.

Abel Aganbegjan, Ökonometriker von internationalem Ruf, skizziert Hintergründe der Reform und betont, daß das neue Konzept auf Planempfehlungen ausgeht, nicht auf sture Weisungen. Der Hinweis auf langjährige Vorarbeiten im Rahmen der Akademie der Wissenschaften widerspricht der These des Briten Michael Kaser, die „Perestrojka“ sei planlos und ohne Vorarbeiten in Gang gesetzt worden.

Erfrischend rechnet der Wirtschaftsmathematiker Nikolaj Pe- trakow mit den „göttlichen Offenbarungen“ ab, die weiland Stalin über „ökonomische Probleme des Sozialismus“ verkünden ließ. Er kritisiert den jahrelangen Schwindel vom angeblichen Ausgleich des Staatsbudgets, verlangt den Schutz des eigenverantwortlichen Wirtschaftssubjekts vor staatsbürokratischer Bevormundung, fordert Marktwirtschaft auch für Investitionsgüter und Devisen, die Härtung des Rubels — und den baldigen Beitritt der UdSSR zum Internationalen

Währungsfonds!

Noch pointierter argumentiert Nikolaj Schmeljow, ebenfalls Chef eines Denkzentrums in Moskau: Ohne Marktfreiheit auch für Produktionsmittel, ohne Gleichstellung des nichtstaatlichen Sektors gibt es keine Wende zum Besseren. Selbst eine gewisse „Reserve“ von Arbeitslosen (gewiß mit Sozialhilfe) habe ihr Gutes: Arbeitsplatzsicherheit leiste der Disziplinlosigkeit, der Trunksucht, der Schlampigkeit Vorschub (!). Anstelle der 50 Milliarden Rubel zur Stützung der Nahrungsmittel- und Dienstleistungspreise solle man lieber direkte Einkommensbeihilfen zahlen… Wie schwer hatten es Neoliberale im Westen, die Idee der marktkonformen Subjektförderung plausibel zu machen!). Zentralplanwirtschaft sei ein sinnwidriges „Monopol des Produzenten“. Selbst das Subsidiaritätsprinzip wird neu entdeckt. Und für all das wird Lenin zum Zeugen aufgerufen, er habe gewußt, daß Sozialismus und Marktwirtschaft keinen Widerspruch bilden.

Im Ungarn-Teil erläutert Parteichef Käroly Grosz seine Wirtschaftsreform, nicht ohne Überschneidungen mit einem instruktiven historischen Beitrag des Bu- dapester Akademiepräsidenten Ivan Berend T. Auch Grosz bejaht marktsichernde Ordnungspolitik im Zeichen des Postulats: So viel Markt wie möglich, so viel Intervention wie nötig. Reform-Protagonist Imre Poszgay stellt gesell- schafts- und verfassungspolitische Ziele heraus: Öffnung von Alternativen, Gewaltenteilung, Machtkontrolle. Wer vom Staat vereinnahmt ist, kann nicht Subjekt der Demokratie sein.

Auf gut 30 Seiten thematisiert der Rechtssoziologe und Justizminister Kalman Kulcsär asiatische und europäische Herrschaftsstile und ihre Begegnung in Ostmitteleuropa - ein Zeugnis

respektabler Gelehrsamkeit, aber in diesem Band ein Fremdkörper.

Nicht so das Zukunftsbild möglicher ungarisch-österreichischer Zusammenarbeit, das Bėla Csi- kos-Nagy zeichnet, mit Hinweisen auf den weltwirtschaftlichen Kontext, zum Beispiel den Trends zur pazifistischen Orientierung.

Endlich zum Österreich-Teil: Nach einer weltpolitischen tour d’horizon des Bundeskanzlers bieten WIFI-Chef Helmut Kramer und IHS-Direktor Hans Seidel die instruktivste Analyse der österreichischen Situation vis-ä-

vis der EG, die es am Maßstab von Inhalt und Umfang derzeit gibt. Industriellenpräsident Heinz Kessler bekennt sich zu österreichischem Euro-Optimismus. SPO-ökonom Herbert Ostleitner erläutert die Abkehr von Austro- Keynesianischen „Paradigmen“, prophezeit wachsende Konfliktbereitschaft der Sozialpartner und wünscht eine Stärkung des Finanzministers gegenüber der Nationalbank, auch im Interesse der Verstaatlichten: interessant, aber diskussionswürdig. Auch er hält, wohlgemerkt, die deregulierenden Effekte einer Binnenmarktteilnahme für wünschenswert, wenngleich unbequem.

Eine Fülle interessanter Botschaften. Aber das Buch ist miserabel redigiert, und das Lektorat verdient einen Rüffel. Sprachliche Mängel und sinnstörende Druckfehler sind beim Kaliber der Autoren eine Zumutung. Literaturangaben, für einige Beiträge unverzichtbar, wurden schlicht weggelassen. Daß es für englische oder russische Fachausdrücke auch entsprechende deutsche gibt, sollte sich herumgesprochen haben. Hochkarätige Texte verdienen auch kompetente Übersetzer!

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Direktoriumsvorsitzender des Institutes für Europäische Politik in Bonn.

EUROPAS AUFSTIEG. Von Karl Vak/ Helmut Zilk (Hrsg.). Europa-Verlag, Wien- Zürich, 1988. 396 Seiten, öS 348,— bis 31. März 1989, danach öS 398,—

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