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Europas Erbe auf dem Ost-Prüfstand

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Worin besteht in Zeiten der Dominanz der Weltzivilisationen überhaupt noch das wesentlich Europäische? Und welche Verantwortung trägt heute der freie Westen für Osteuropa?

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Worin besteht in Zeiten der Dominanz der Weltzivilisationen überhaupt noch das wesentlich Europäische? Und welche Verantwortung trägt heute der freie Westen für Osteuropa?

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In dem Maße, als die ganze Welt europäisch geworden ist, und die von Europa ausgegangene wissenschaftlich-technische Zivilisation weltbeherrschend geworden ist, in demselben Maße ist Europa vom Zentrum der Welt zur Provinz geworden.

Wir sind Provinzen von Weltreichen und Weltzivilisationen, deren Metropolen nicht europäisch sind. Am Kurfürstendamm kann ich japanische Fische essen zu argentinischem oder kalifornischem Wein, zwei Kilometer weiter, Unter den Linden, kann ich grusinischen Sekt trinken und usbekische Marillen essen.

Worauf ich damit hinweisen möchte, ist der Umstand, daß Europa in seiner Mitte zerrissen ist, entführt und gekidnappt zu weit entfernten Polen. Natürlich ist Europa selbst schuld an diesem Zustand. In seinem Drang zur Weltherrschaft und aus seiner innereuropäischen Konkurrenz — beides etwas typisch Europäisches — hat sich Europa selbst vernichtet und zur Provinz degradiert.

Worauf es heute ankommt, ist, wenigstens noch einen Begriff von Europa zu haben und ihn festzuhalten. Worin besteht dieses wesentlich Europäische, das unterscheidend Europäische?

Das Wesentliche für diesen Begriff des Europäertums scheint mir das gemeinsame griechisch-jüdisch-christliche Erbe zu sein, daß also der Mensch von einem persönlichen Gott als Ebenbild dieses Gottes geschaffen wurde; daß wir uns daher als Individuum und Person erkennen können, die mit unverzichtbaren Rechten und Würde ausgestattet ist.

Das heißt weiters, daß wir, indem wir uns selbst transzendieren, den anderen als Du und als unseren Nächsten erkennen. Das heißt weiters*, daß wir uns zur Welt in Bezug setzen und die Differenz von Objekt und Subjekt kennen — wie zweifelhaft und ambivalent diese Begabung immer auch sein mag.

Und das heißt weiters, daß wir meinen, daß über uns kein blindes Schicksal waltet, sondern daß wir selbst Geschichte machen; Geschichte, die sich nicht zyklisch wiederholt, sondern gerichtet ist auf ein Ende.

Gemeinsam ist dem gläubigen und dem ungläubigen europäischen Geist, daß der Mensch der Täter seiner Taten und der menschliche Geist der Motor der Geschichte ist, eben einer Geschichte, die sich nicht in der ewigen Wiederkehr des Gleichen erschöpft, sondern Richtung auf ein Ende, auf Vollendung hin, nimmt.

Und letztlich, und das ist das Grundlegende des Europäertums, die Überzeugung, daß der Mensch eben vom Baum der Erkenntnis gegessen hat und also Gut und Böse unterscheiden kann, daß er sich aus selbstverschuldeter Unmündigkeit befreien kann und damit für seine Taten einstehen muß: mit Schuldbewußtsein und Verantwortungsbewußtsein.

Darin liegt seine Freiheit. Und diese Freiheit, samt der darin begründeten Würde des Menschen und samt ihrer Schuldverstrickung, diese Freiheit hat Europa der Welt verkündet.

Darin liegt die gemeinsame Kultur Europas, und auch die Aufgabe Europas für die Zukunft: der Welt weiterhin die Freiheit und die Würde und die Selbstverantwortung des Menschen zu verkünden. Ob das, was hier skizziert wurde, tatsächlich das gesamteuropäische Erbe ist, ist zweifelhaft. Jedenfalls ist es das Erbe des lateinischen Westens, zu dem auch ganz Mitteleuropa gehört.

Wie sehr sich der Osten mit der Zeit diesem europäischen Selbstverständnis nähert, wage ich nicht zu beurteilen. Zu erkennen ist leider, daß der Hedonismus der westlichen Welt dieses Selbstverständnis zu verlieren droht.“

Wir sind geneigt, alle unsere Unzulänglichkeiten auf die „Gesellschaft“ zu schieben, den Rechten nicht die entsprechenden Pflichten zuzuordnen, nach der Vorsorge des Staates zu rufen, wo wir Gebrauch von unserer Freiheit und eigenen Gestaltungskraft machen sollten.

In diesem Punkt stehen wir wieder auf dem Prüfstand unserer Zeitgenossen hinter dem Eisernen Vorhang, die uns um unsere Freiheit beneiden und an uns feststellen, daß wir den Grund dieser Freiheit gar nicht mehr kennen.

Sie schütteln den Kopf über unsere geistige Bewegungsarmut, über unseren Überfluß und unseren Überdruß, über unseren nihilistischen Umfang mit geistigen, kulturellen und politischen Werten, auf denen unsere Kultur, unser Wohlstand und unsere Freiheit beruhen.

Der Marxismus in seiner leninistischen Ausprägung hat in den kommunistischen Ländern keinerlei geistige Anziehungskraft mehr. Ebenso hat der geistige und politische Einfluß des Sozialdemokratismus und der Wohlfahrtsstaatsideologie stark abgenommen: der Wohlstand, den er verteilt oder nur verspricht, kommt aus anderen geistigen und sozialen Einstellungen als ihm selbst eigen sind.

Die hedonistisch-nihilistische Konsumgesellschaft kann letztlich nur jene Güter konsumieren, die aus einer anderen Geisteshaltung produziert wurden. Die Freiheit kann nur von jenen und für jene erhalten werden, die von ihr verantwortlichen Gebrauch oder überhaupt Gebrauch machen wollen.

Das sind Dinge, die man sofort erkennt und einsieht, wenn man mit einem Menschen aus einem mitteleuropäischen Land hinter dem Eisernen Vorhang über den Alltag hier und dort spricht. Sie sind informiert über unsere Lebensweise und bewundern nicht nur unseren Wohlstand, sondern weisen einen auch auf die Widersprüche unserer Lebensweise hin.

Die größte Anziehungskraft haben heute in diesen Ländern einerseits die ökologische Bewegung (was bei dem fortgesetzten Raubbau, der dort üblich ist, sehr verständlich ist), und jener Wertezusammenhang aus Freiheit, Personalität, Solidarität und gesellschaftlicher Subsidiarität, den wir hier „Christliche Demokratie“ nennen, der dort aber unter diesem Namen keine Tradition hat.

Für die Menschen in den ostmitteleuropäischen Ländern ist das einfach der Inbegriff europäischer Tradition von Freiheit, Rechtlichkeit, solidarischer Selbstentfaltung und Selbstverantwortung und gesellschaftlicher Machteinschränkung, wie sie zivilisierten Völkern eben eigen ist.

Für uns in Österreich und Westeuropa sollte das kein Missionsinhalt oder Exportgut in diese Länder sein — das ist schon dort und bei den Menschen verankert. Sie haben zwar nicht die Möglichkeit, das staatspolitisch und institutionell in die Tat umzusetzen.

Aber es gibt-auch in diesen Ländern Bereiche und gewisse Zeiten, wo soziale Regelungen nach diesen Mustern und aufgrund dieser Werthaltungen in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen Platz haben, und auch angewendet werden.

Ich erinnere daran, daß der geistige Uberbau und sozusagen das System der Ethik der Solidarität in Wien an den Gründervätern der österreichischen Christdemokraten studiert wurden.

Am besten nehmen wir unsere eigenen Aufgaben und unsere Verantwortung für die Menschen im östlichen Mitteleuropa wahr, wenn wir selbst so gut wie möglich das Beispiel einer freiheitsbewußten, gerechten, sozialen Gesellschaft anbieten, die nicht nur in materiellem Konsum aufgeht, sondern auch die Würde des Menschen im Auge hat und sich um geistige Werte auseinandersetzt.

Wir können sie nicht politisch befreien, wir können ihnen auch nicht unseren materiellen Wohlstand schaffen; aber an dieser geistigen Auseinandersetzung über den Wert und die Würde und die Hoffnung des Menschen können wir sie in europäischer Gemeinsamkeit teilhaben lassen.

Der Autor ist Vizebürgermeister und Obmann der Wiener Volkspartei sowie stellvertretender ÖVP-Bundesparteiobmann.

Der Beitrag ist ein Auszug eines Referats zum Thema „Chancen der Christlichen Demokratie in Mitteleuropa“ im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der Politischen Akademie der ÖVP.

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