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Evangelisch ist schön
Einer bekannten lutherischen Legende zufolge soll Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen am Portal der Schloßkirche von Wittenberg angeschlagen haben. Wahr ist vielmehr, daß Luthers Thesen in jenem Jahr als Plakatdruck größte Verbreitung fanden. Kurioserweise ist dieses Plakat ausgerechnet von einem Wiener reformierten Pfarrer in den letzten Jahren zwischen Sydney und Lima neuerlich verbreitet worden.
Jedenfalls haben diese Thesen eine Art Revolution in der Kirche ausgelöst und das Zeitalter der Reformation eingeleitet. Zugleich und unabhängig von Luther ist durch Zwingli die Reformation in Zürich „ausgebrochen". Der neue Glaube hat große Faszination ausgeübt: Evangelisch war „in", besonders bei der Jugend. Das erklärt auch die explosionsartige Verbreitung der Reformation in ganz Europa. Auch Österreich wurde vom „evangelischen Fieber" erfaßt und gegen 1560 waren 80 Prozent von Österreich evangelisch! Man hat damals gewitzelt: Bald würde es hier nur mehr eine einzige katholische Familie geben - die Habsburger!
Aber jedes Schulkind weiß, daß es anders gekommen ist. Auf den Frühling der Reformation folgte der Winter der Gegenreformation. Heute sind nur fünf Prozent der Österreicher evangelisch, die beiden Kirchen haben seit Jahren keine Zeit für „Offensiven", weil sie sich viel lieber mit sich selber beschäftigen. Und in den „Sitzungspausen" beneiden sie die große römisch-katholische Kirche. Dabei wäre eher Dankbarkeit angezeigt.
Die Protestanten leben .in zwei selbständigen Kirchen, ihnen darf kein „Papst" dreinreden. Frauen sind gleichberechtigt im geistlichen Amt. Die Pfarrer/innen und die Kirchenleitung werden demokratisch gewählt. Es gibt kein ethisch-moralisches Bevormunden. Die Pfarrgemeinden sind so klein, daß alle Mitglieder individuell betreut werden können. „Laien" sind gleichberechtigt, ohne sie gibt es keine Entscheidung. Nur heutige Protestanten vergessen leicht, wie beneidenswert schön es ist, evangelisch zu sein.
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