6813196-1972_45_16.jpg
Digital In Arbeit

Exodus — retour

19451960198020002020

Abram kam aus Ur in Chaldäa in das Land Kanaan. Und sein Gott sprach zu ihm: „Gehe du aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dich sehen lassen werde.“ So steht es geschrieben im Ersten Buch der Weisung, im 12. Kapitel. Und sie sind aus ihrem Land hinausgegangen, aus ihrer Verwandtschaft, aus dem Haus ihres Vaters und haben das Land gesehen, das ihnen verheißen war — das Land Israel. Sie haben gesehen und nicht das gefunden, was sie sich erwarteten. Nun wollen sie wieder zurück in das Land, das sie verließen, doch ihr Väterchen Rußland will die verlorenen Söhne nicht mehr. Die Heimatlosen, die eine Heimat hatten und glaubten, nun ihre wirkliche Heimat zu finden, sie sind wieder heimatlos geworden — in Wien-Leopoldstadt, Malzgasse I.

19451960198020002020

Abram kam aus Ur in Chaldäa in das Land Kanaan. Und sein Gott sprach zu ihm: „Gehe du aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dich sehen lassen werde.“ So steht es geschrieben im Ersten Buch der Weisung, im 12. Kapitel. Und sie sind aus ihrem Land hinausgegangen, aus ihrer Verwandtschaft, aus dem Haus ihres Vaters und haben das Land gesehen, das ihnen verheißen war — das Land Israel. Sie haben gesehen und nicht das gefunden, was sie sich erwarteten. Nun wollen sie wieder zurück in das Land, das sie verließen, doch ihr Väterchen Rußland will die verlorenen Söhne nicht mehr. Die Heimatlosen, die eine Heimat hatten und glaubten, nun ihre wirkliche Heimat zu finden, sie sind wieder heimatlos geworden — in Wien-Leopoldstadt, Malzgasse I.

Werbung
Werbung
Werbung

Will man das Alte Testament noch weiter mit der modernen Terminologie vermischen, so muß man feststellen, daß die Verstoßenen wieder einmal als Marionetten des weltpolitischen Spiels die verbindenden Fäden verloren — und dabei zwischen alle Stühle dieser Welt fielen.

Von 81 sowjetischen Juden — Männern, Frauen und Kindern — ist hier die Rede. Im Juni des Vorjahres hatten sie die Sowjetunion verlassen dürfen, das Land, in dem sie geboren wurden — in dem sie aufgewachsen sind, in dem sie gearbeitet haben und das Land, das sie erzogen hat. Drei oder vier Monate, sagen sie, hat es gedauert, bis ihnen das gewünschte ' Ausreisevisum gegeben wurde. Wir sind Juden, hatten sie gedacht — und deshalb wollen wir nach Israel, in das Land der Juden.

Etwas länger als einen Monat sind sie dort gewesen, in Israel. Sie haben versucht, sich unter ihren Glaubensbrüdern ihrer neuen Heimat zu freuen und sich in dieser zurechtzufinden.

Sie haben es versucht — aber es ist ihnen nicht gelungen. Also wollten sie zurück in das Land, in dem sie geboren und erzogen wurden, in dem sie gelebt und gearbeitet hatten.

Der Retour-Exodus führte sie, wie schon die Reise ins Gelobte Land, über Wien. Und hier sind sie vorerst gestrandet. Sie wollten auswandern, sie sind keine sowjetischen Staatsbürger mehr — das ist alles, was man derzeit in der Wiener sowjetischen Botschaft über die 81 sowjetischen Juden zu sagen hat, die von sich selbst sagen, sie hätten sich getäuscht. Enttäuscht sitzen sie nun im abbruchreifen Haus Malzgasse Nr. 1 — gleich um die Ecke des Theodor-Herzl-Hofes — in Wiens zweitem Gemeindebezirk und hoffen dennoch, zurückkehren zu dürfen. Man spürt nicht nur Mitleid, man spürt — warum, das kann man eigentlich nicht sagen — fast so etwas wie schlechtes Gewissen, wenn man dieses Elendsquartier betritt, einem der Umstehenden den Grund des Besuches vorträgt und dann hinaufgeführt wird in den zweiten Stock — in ein kahles Zimmer, dessen Fensterscheiben teilweise mit Karton ersetzt werden mußten und dessen

Einrichtung aus vier abgewetzten Stühlen, einem wackeligen Tisch und aus einem Sofa besteht, dessen beste Zeit wohl auch schon zehn bis fünfzehn Jahre zurückliegen dürfte. Die Blicke der Männer und Frauen, die man dort antrifft, sind ebenso hart und fest wie ihr Händedruck.

Nur einer dieser Blicke ist anders, ein Händedruck weicher. Der Mann erklärt den Unterschied denn auch gleich: „Ich bin eh a Weana — a Weana Jud.“ Er ist vom jüdischen Altersheim in Döbling herübergekommen, um seinen Brüdern die Meinung zu sagen: „Ihr seid's ja eppert — i wohr sieben Johr in lußland, g'schlagen ham's mi — i )in froh, daß i außekumman bin ind ihr wollt's z'rück? — Na, i versteh des net!“

Der Mann, der dem Glaubensbru-ler aus Wien gegenübersitzt, hat iolche Vorhalte schon oft genug ge-lört, in dem Jahr, seit er nun schon n Wien sitzt und auf die Erlaubnis :ur Rückkehr in die UdSSR wartet. Cr ist Kraftfahrer, erzählt er, und lat einen Teil seiner Familie lamals, bei der Auswanderung, nitnehmen dürfen: seine Frau, eine Schneiderin und seinen Sohn, einen Ingenieur. So vielfältig wie in dieser ramdlie ist das Berufsspektrum auch >ei allen anderen Bewohnern des Hauses Malzgasse Nr. 1. Jetzt aller-iings sind sie alle Hilfsarbeiter, so-:ern sie überhaupt eine Arbeit in Wien gefunden haben. Wer keine \rbeit gefunden hat, das sind die etwa dreißig Georgier, die kein Wort Deutsch verstehen. Sie sind allein auf die Hilfe ihrer Brüder angewiesen.

In Israel, dort hätten sie alle ihre Arbeit und ihre Wohnungen bekommen — doch „das , ist nicht alles“, sagt der Kraftfahrer aus Moskau, der geglaubt hat, „in ein Arbeitsland“ zu kommen und einen Staat vorgefunden hat, in dem die „Gesetze der kapitalistischen Gesellschaft mit allen ihren Vor- und Nachteilen“ gelten. Die Leute, die weniger arbeiten wollten — meint er

— denen würde es in Israel schon gefallen, doch „einem echten Arbeiter nicht“. Und überhaupt seien er und seine Gefährten so an das „sozialistische System gewöhnt“, daß sie sich in diesem „westlichen Israel“ nicht zurechtfinden könnten — sie seien eben schon in ihrem Denken und Handeln „sowjetisiert“. „Wir können nicht mehr westlich denken lernen“, glaubt er und würde daher

— sofern er jemals dazu Gelegenheit haben sollte — jedem Glaubensbruder in der UdSSR „raten, nicht auszuwandern aus der Heimat, in der wir geboren worden sind und wo wir unsere Mentalität erhalten haben“.

Man käme nun fast in Versuchung, sich eines Klischees zu bedienen — sich an den Löwen zu erinnern, der im Zoo geboren wurde und seine Lebensgrundlage verloren hat, sobald man ihn in die freie Wildbahn entläßt. Doch auch, wenn der Löwe im Zoo aufgewachsen ist, hat er seinen Stolz, der sich mit jenem der Brüder in Israel nicht verträgt: „Die sagen, wir müssen ihnen dankbar sein, weil sie uns gerettet hätten“, erzählt unser Arbeiter aus Moskau und fügt hinzu: „So ein Blödsinn!“

„Israel muß sein“, stellt er fest,

„doch ohne uns“. Man hatte versucht, diese 81 Menschen in Israel zu halten; „Man hat uns Geld geboten, man wollte uns in die USA, nach Australien oder nach Südafrika schicken, aber dort sind wir nicht zu Hause — es ist auch hier in Österreich schön, aber es ist nicht unsere Heimat.“ Dieses Wort „Heimat“ fällt immer öfter und der Tonfall wird dabei immer verklärter. Man fürchtet wohl auch keine Konsequenzen, wenn man in diese Heimat zurückkehrt. „Wir sind nie gegen die

UdSSR gewesen, deshalb haben wir auch keine Angst — wir würden sicher unsere alte Arbeit wieder bekommen.“

Hier tut sie sich also auf, die Kluft in einem Menschen, der nicht wußte, was er mehr ist: Sowjetbürger oder

Jude. Und dieses Problem ist so wenig neu wie selten. „In unserer demokratischen Lebensform bleiben sie eine Zeitlang Invaliden“, sagte Nathan Peld, der aus Odessa stammende israelische Einwanderungsminister, einmal über die aus der Sowjetunion kommenden Emigranten. Sie sind also Invaliden, von denen man nicht weiß, ob sie es nur eine Zeitlang oder für immer bleiben werden. Die Zerrissenen haben die Verstoßenen abgelöst.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung