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Experte der Menschlichkeit
Wer die siebte und bisher längste Auslandsreise Papst Johannes' Pauls II. verfolgte, sah bereits gewohnte Bilder: riesige Menschenmassen, feierliche Liturgien, fast endlose Ansprachen, dazu die unvermeidlichen Verpflichtungen eines Staatsbesuches, dazwischen auflockernde folkloristische Veranstaltungen.
Vor allem waren diese 13 Tage, in deren Verlauf der Papst 13 brasilianische Städte besuchte, ein neuer Triumphzug, der zahlenmäßig mehr Menschen anzog als alle vorausgegangenen Reisen.
Das wirft eine Frage auf, die in den letzten Tagen oft gestellt wurde: Was ist das Geheimnis, das dem „Phänomen Wojtyla” zugrundeliegt? Warum strömen ihm so ungewöhnlich große Massen von Menschen zu? In Belo Horizonte waren es viereinhalb Millionen! Was setzt diese Menschen in Bewegung, was motiviert sie?
Nach sieben Auslandsreisen weiß man, daß die Antwort mit dem Hinweis auf nationale, gesellschaftliche, rassische oder geographische Gegebenheiten nicht ausreicht. Schon eher trifft der Hinweis auf Amt und Stellung eines Papstes zu, denn auch Paul VI. zog während seiner Auslandsreisen ungewöhnlich viele Menschen an, obwohl sich seine Persönlichkeit von der Karol Wojtylas stark unterschied und er für große öffentliche Auftritte und Gesten sicher kein besonderes Talent hatte.
Für Johannes Paul II. dürften über das Prestige des Amtes hinaus noch andere Faktoren eine starke Rolle spielen. Die Mischung von Ruhe, Festigkeit und Liebenswürdigkeit übt nachhaltigen Einfluß auf die Menschen aus, die ihm persönlich begegnen.
Sie ahnen in Karol Wojtyla eine Persönlichkeit, die tiefe, feste Wurzeln hat. Sie spüren, daß diese Wurzeln nicht im Flüchtigen, Vergänglichen, sondern im dauernden, im überzeitlichen Ja, im Transzendenten liegen. Sie glauben, daß man auf eine so geartete Persönlichkeit bauen, sich verlassen kann.
Sie vertrauen darauf, daß hinter dem, was der Papst sagt, kein machtpolitisches oder wirtschaftliches Interesse, sondern Christus steht.
Das Geheimnis, das dem „Phänomen Wojtyla” zugrundeliegt, ist sein Christusverständnis, um das er selbst jahrzehntelang gerungen hat und das er mit seinem geradezu künstlerischen Talent, sich in Wort und Geste auszudrük-ken, öffentlich bezeugt.
Die Gestalt Jesu Christi, von Theologen, Priestern und katholischen Eltern oft entstellt, verkürzt und instrumentalisiert, zeigt sich in den Predigten dieses Papstes in einer ungemein menschlichen Deutung, was vermutlich auch der Grund dafür ist, daß dieser Papst so viele Jugendliche zu begeistern versteht.
Die Reise des Papstes in das größte katholische Land der Welt zeigt ein soziales Interesse, wie keine andere zuvor. Den von Arbeitskonflikten betroffenen Arbeitern von Sao Paulo versichert der Papst im größten Stadion der Welt, daß die Kirche die Rechte der Arbeiter unterstützen werde, „weil der
Mensch in seiner Würde auf dem Spiel steht”, gleichzeitig warnte er:
„Der Klassenkampf ist nicht der Weg, der zur sozialen Befreiung führt. Er trägt in sich die Gefahr, neue Situationen der Ungerechtigkeit dadurch zu schaffen, daß er anderen die Daseinsberechtigung streitig macht”.
Die Bischöfe Brasiliens lobte der Papst, daß sie mit dem Thema des 10. Eucharistischen Nationalkongresses („Eucharistie und Wanderung”) die eu-charistische Frömmigkeit mit der sozialen Verantwortung in enge Verbindung bringen wollten.
Aber auch sie warnte er mit ungewöhnlicher Deutlichkeit, sich in politisehe oder wirtschaftliche Fragen einzumengen oder gar Partei zu ergreifen, denn „inmitten der Gläubigen sind wir nicht Fachleute der Politik oder der Wirtschaft, auch nicht Leiter eines zeitlichen Unternehmens.”
In dieser Ansprache an die Vollversammlung der brasilianischen Bischöfe, an der er bis zuletzt gearbeitet hatte, erinnerte der Papst die Bischöfe, daß sie in erster Linie im Dienst des Evangeliums stehen müßten und Forderungen zugunsten der großen menschlichen Werte an Staat und Gesellschaft nur im Namen dieses Evangeliums richten dürften.
Einige Tage zuvor'hatte der Papst seine eigene Kompetenz umrissen. In der vielleicht interessantesten Ansprache während seiner über 30.000 km langen Reise hatte Johannes Paul II. in Salvador de Bahia erklärt:
„Ich spreche hier nicht als Wirtschaftsexperte oder Soziologe, sondern kraft meines Amtes, kraft meiner Sendung als universaler Hirte der Kirche, einer Kirche, die Paul VI. einmal als ,Expertin der Menschlichkeit' bezeichnet hat.”
Diese Sendung berechtigte die Kirche und mit ihr den Papst, an der umfassenden Gewissensbildung einer Gesellschaft mitzuwirken. In Brasilien sah der Papst seinen Auftrag vor allem in der Stärkung eines Gespürs für mehr soziale Gerechtigkeit, wobei ihn der Grundsatz leitet:
„Jede Gesellschaft, die nicht von innen heraus zerstört werden will, muß auf der sozialen Gerechtigkeit aufbauen.”
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