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Explosionsgefahr in Frankreich?

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Demonstrierende Studenten, Schlägereien mit der Polizei, Straßenbarrikaden, brennende Autos - Bilder aus Frankreich, die an die Mai-Explosion von 1968 erinnern. Dennoch: Zur Dramatisierung besteht keine Veranlassung.

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Demonstrierende Studenten, Schlägereien mit der Polizei, Straßenbarrikaden, brennende Autos - Bilder aus Frankreich, die an die Mai-Explosion von 1968 erinnern. Dennoch: Zur Dramatisierung besteht keine Veranlassung.

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Aus der Ferne sind die Zusammenstöße in Paris und in einigen Provinzstädten zwischen demonstrierenden Studenten und der Polizei höchst eindrucksvoll. Es werden kleine Barrikaden errichtet, Autos in Brand gesteckt, gelegentlich auch Geschäfte geplündert. Die Ordnungskräfte melden mehr oder weniger hohe Zahlen von Verletzten.

Die Opfer der anderen Seite sind weniger bekannt, weil sie es für vorsichtiger halten, in ihren Familien oder diskret in einigen Sanitätsstationen zu verschwinden.

Der Protest der Studenten gegen die Hochschulpolitik der Re-

gierung ist zwar massiv, aber für die Schlägereien waren bisher nur kleine Gruppen verantwortlich, die sich jeweils nach Beendigung der ruhig verlaufenen Straßendemonstrationen bemerkbar machen und die Polizei provozieren. Für die Regierung handelt es sich hierbei um rechtsradikale Elemente. Aller Wahrscheinlichkeit nach spielen aber auch Linksextremisten und Marginale eine Rolle.

Die öffentliche Meinung nimmt die Zwischenfälle recht gelassen hin. Sie gehören gewissermaßen zur Tradition des Pariser Studentenviertels. Das Bedürfnis zum Austoben über die zulässigen Grenzen hinaus machte sich nach

Augenzeugenberichten bereits im hohen Mittelalter bemerkbar. Es muß schon mehr geschehen, damit das Staatsgefüge in Frage gestellt wird.

Im Mai 1968 lehnten sich die Studenten gegen das Gesellschaftssystem auf und suchten — vergebens — nach neuen Lebensformen. Heute beherrscht sie vorwiegend die Angst um ihre materielle Zukunft. 1968 setzten sich neben ihnen gegen das gaullistische Regime nach einigem Zögern die Linksgewerkschaften in Bewegung, heute bleiben sie in Abwartestellung, weil sie vor den Folgen einer starken Schwächung der sozialistisch-kommunistischen Regierungskoalition im eigenen Interesse zurückschrecken.

Die ohne Zweifel höchst unzufriedenen bürgerlichen Schichten Frankreichs, Handwerker, Kleinhändler und freie Berufe sind organisatorisch nicht in der Lage, die Gewerkschaften zu ersetzen. Sie haben auch nicht die Absicht, sich politisch mit den Studenten solidarisch zu erklären.

Es wäre demnach übertrieben, von einer ernsten Explosionsge-

fahr zu sprechen. Aber trotzdem darf das jetzige Geschehen in Frankreich nicht als belanglos betrachtet werden:

Den Anfang machten im Februar die Medizinstudenten mit einem langen Proteststreik gegen eine neue Studienordnung, die als unerträgliches Zwangssystem empfunden wurde. Ihnen schlossen sich zwei Kategorien von Krankenhausärzten an. In beiden Fällen mußte die Regierung einlenken. Allerdings besteht im Augenblick nicht die Gewißheit, daß der vereinbarte Kompromiß den beiderseitigen Erwartungen entspricht.

Die Masse der Studenten folgte im April, als der Erziehungsminister seine Absicht bekundete, dem Parlament Ende Mai ein neues Hochschulgesetz zur Billigung zu unterbreiten. Es löste zahlreiche Bedenken aus. Außerdem hielt sich die grundsätzlich von der Regierung zugesagte vorherige Konsultation mit den betroffenen Interessengruppen in äußerst engen Grenzen.

In der am 24. Mai begonnenen parlamentarischen Debatte wur-

den fast 2.500 Abänderungsanträge eingebracht, darüber über hundert vom Regierungslager und fünfhundert von einem besonders eifrigen Abgeordneten der Opposition. Dieser einmalige parlamentarische Rekord läßt erkennen, wie stark die Regierungsvorlage umstritten ist und auch, wie fragwürdig sie sein muß, zumal sie nicht nur von der überwiegenden Mehrheit der Studenten, sondern auch von einem erheblichen Teil der Professoren und Assistenten als ganz oder teilweise unannehmbar zurückgewiesen wird.

Das sozialistische Gleichheitsideal hat wieder einmal Pate gestanden. Einerseits sollen die Hochschulen möglichst allen Jugendlichen offenstehen, andererseits sorgt der Staat durch die Schaffung eines von oben gesteuerten dirigistischen Systems für eine weitreichende Nivellierung.

Nach den Bestimmungen des Gesetzes, dessen konkrete Anwendung durch die in Frankreich eine erhebliche Rolle spielenden Ausführungsverordnungen in nicht geringem Maße abge-

schwächt oder verstärkt werden kann, besteht in den ersten zwei Studienjahren gewissermaßen Narrenfreiheit.

Der Weg zur zweiten Etappe führt über ein Examen, wobei vorläufig offenbleibt, wieweit es sich hierbei um ein mehr oder weniger strenges Ausleseverfahren handelt. Auf jeden Fall ist mit dem Fehlschlag von mindestens einem Drittel und wahrscheinlich von der Hälfte der Studenten zu rechnen. Was aus diesen Gescheiterten werden soll, weiß niemand recht.

Auf jeden Fall geht er von falschen Voraussetzungen aus, denn entgegen seiner Meinung gibt es in Frankreich nicht zu wenig, sondern zu viel Studenten. Dies zeigen deutlich zuverlässige Vergleiche mit der Bundesrepublik und den USA. Schon jetzt sind die Hochschulen dem Andrang pädagogisch und organisatorisch nicht mehr gewachsen.

Schwer ersichtlich ist andererseits, weshalb das neue Gesetz die bisher schon geringe finanzielle Bewegungsfreiheit der Hochschulen und der Regionen weiter einschränkt und auf diese Weise sowohl der Dezentralisierung wie der Autonomie der Universitäten praktisch den Boden entzieht. Professoren aller politischer Tendenzen fordern bezeichnenderweise für die Hochschulen die gleiche Autonomie, wie sie gerade durch das Dezentralisierungsgesetz den kleinsten Gemeinden des Landes zugestanden wurde.

Die starke Betonung des staatlichen Monopols für die Ausgabe nationaler Diplome erschwert ferner den allgemein als notwendig betrachteten Wettbewerb zwischen den einzelnen Hochschulen, so wie er in den USA — eigenartigerweise das Vorbild des französischen Erziehungsministers — üblich ist. Sicher ist auf jeden Fall, daß der nunmehr den Hochschulen vorgeschriebene Massenbetrieb ihr Niveau herabdrücken muß.

Der einzige Trost ist die in den letzten Jahrzehnten gemachte Erfahrung, daß kein einziges Schulreformgesetz so verwirklicht wurde, wie es sich sein Urheber ausgedacht hatte. An den Realitäten kommen auch die Ideologen nicht vorbei.

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