6814249-1972_51_13.jpg
Digital In Arbeit

Extreme Verhaltensweisen

19451960198020002020

Im „Timon“ von Lukian sagt Hermes von diesem reichen Athener, sein Mitleiden mit allen Dürftigen habe den Mann zugrunde gerichtet, und später erklärt er zu begreifen, daß der Verarmte sunt Menschenfeind geworden sei, nachdem er „so vieles und ungeheures Unrecht“ erlitten habe. Eben dieses Mitleiden trifft auf die Hauptgestalt votl Shakespeares Schauspiel „Timon von Athen“, das derzeit im Volkstheater aufgeführt wird, kaum zu.

19451960198020002020

Im „Timon“ von Lukian sagt Hermes von diesem reichen Athener, sein Mitleiden mit allen Dürftigen habe den Mann zugrunde gerichtet, und später erklärt er zu begreifen, daß der Verarmte sunt Menschenfeind geworden sei, nachdem er „so vieles und ungeheures Unrecht“ erlitten habe. Eben dieses Mitleiden trifft auf die Hauptgestalt votl Shakespeares Schauspiel „Timon von Athen“, das derzeit im Volkstheater aufgeführt wird, kaum zu.

Werbung
Werbung
Werbung

Timon verschenkt, was er nur verschenken kann; er wird zum berserkerhaften Menschenhasser, als er nichts mehr hat und ihm seine Freunde Hilfe versagen. Hierin zeigt sich innere Zwangsläufigkeit. Timon hat einem manischen Schenkungsbedürfnis gefrönt, dabei aber menschlich versagt, es fehlte ihm als Reichen jede innere Beziehung zu den Menschen, so begegnet ihm nur Geldgier, die er durch sein Verhalten bei den andern noch hochtrieb. Die grandiosen Fanfaren seines Menschenhasses erweisen erst recht seine innere Leere. — Unser äußeres Erleben ist notwendige Reaktion auf unsere Wesensart, das. zeigt dieses Stück. Timons Anklage gegen die Menschen wird indirekt zur Anklage gegen sich selbst. Nur hat dies Shakespeare in der Zeit einer seelischen Verstörung, in der das Stück entstand, offenbar nicht bemerkt.

Der Zustand des Textes, der auf uns kam, ist durch Unterschiede des Stils „entsetzlich“, stellt Georg Brandes fest. Das Wortgefüge der Übersetzerin Dorothea Tieck spreizt sich, Manfred Vogel rafft daher in seiner nun gespielten Nachdichtung sehr geschickt die Vorgänge, er räumt sprachliche Hindernisse weg, bietet wirkungssteigernde Durchschaubar-keit. Doch wird das überaus Primitive und daher recht eigentlich Un-Shakespearische dieses Schauspiels in der Aufführung besonders eklatant, obwohl sich auch der junge griechische Regisseur Spyros A. Evangelatos bewährt, die Szene beweglich hält, die Großzahl an Mitwirkenden überlegen einsetzt, so daß es viel zu schauen gibt. Ein anderer junger Grieche, Giorgios Patsas, baute ein sehr praktikables Bühnenbild aus Holzpodien und einigen Hängern auf: in diesem Griechenland ist alles Holz, nicht Stein. Herwig Seeböck als Timon glaubt man das Einfältige des Reichen, erst recht die Haßemanationen des Verarmten. Für die übrigen Darsteller ergeben sich kaum Aufgaben, sie haben nur Verhaltensweisen darzubieten, so

Albert Rölant als Alkibiades, Ernst Meister als Philosoph Apemantus, Joseph Hendrichs als Verwalter und die vielen anderen.

Der Schneiderssohn John Webster, ein Zeitgenosse Shakespeares, hat Tendenzstücke geschrieben, grob, knallig, brutal und doch auch von wilder Schönheit. Sein Stück „Der weiße Teufel“ bearbeitete Dieter Forte unter dem Titel „Weiße Teufel“ für das Basler Theater. „Handlanger“ heißt diese Bearbeitung in der Aufführung durch die „Komödianten“. Da ist, das Wort von Hob-bes läßt sich anwenden, der „Mensch des Menschen Wolf“, auslösend wirkt die Macht der Herrschenden. Wie bei Camus' „Caligula“ führt ihre schränkenlose äußere Freiheit zu einem Übermaß an Verbrechen, der Gier von Herzog und Großherzog ist die Gier fast aller Angehörigen der Familie Acorambona dienstwillig. Ein Kardinal beschönigt was geschieht. Ergebnis: Von zehn Gestalten werden sechs erstochen, vergiftet, erwürgt.

Ein Tendenzstück? Ja, denn die Macht ist hier an sich böse, an sich Verbrechen. In der Bearbeitung von Forte wird das Stück abgenagt bis auf die Knochen der Aktion von Mordauftrag und Mord. Forte verschärft die Tendenz dadurch bis aufs äußerste. Diese Auffassung wird begreiflich in einer Zeit, da die staatliche Macht in totalitären Staaten hypertroph wurde und zu Massenmorden gigantischen Ausmaßes führte. Das Stück ist aber nur noch Skelett. So nun führt es Regisseur Conny Hannes Meyer in völlig schwarzem Bühnenraum auf einigen schwarzen Podesten in der von ihm entwickelten Darstellungsart als ein Bewegungsritual vor. Die Positionen von Macht und Ohnmacht sind ins Optische umgesetzt. Das Stück erhält dadurch eine neue Dimension. Gleichwertiges Spiel der Mitwirkenden, vor allem von Peter Heeg als Herzog, Dieter Hofinger als Großherzog, Gunther W. hämmert als Kardinal,

Georg Nenning als Sekretär, Elisabeth Schratten als Mätresse des Herzogs. Zeitlose Kostüme mit Akzenten von heute.

Das Altwiener Volkstheater wurde nicht nur von den „großen Drei“ mit Bühnenwerken beliefert, von Bäuerle mit 80, von Meisl mit 170, von Gleich mit 220 Stücken, es gab auch andere viel gespielte Autoren, deren Namen man heute kaum noch kennt. So Carl Juin (Guigno), von dem das Theater im Palais Erzherzog Karl derzeit unter dem Titel „Altwiener Possen“ zwei längere Einakter aufführt.

Sie erwiesen sich überraschend für eine Kleinbühne auch heute als durchaus spielbar und amüsant. Zwei rechte Posseneinfälle. In „E. S. S. oder Die Ausstaffierung“ hat der Rentier Cicero Schusserl die Aussteuer für seine Tochter voreilig mit den Initialen E. S. des Bräutigams versehen lassen, aber der Hallodri

ging durch und nun wird unter turbulenten Umständen und dauernden Mißverständnissen ein „E.-S.“-Er-satzmann gesucht. Der zweite Einakter ist das possenhafte Gegenstück zu einer Charakterkomödie: Die unentwegt begeisterte Hilfsbereitschaft des reichen Privatiers Wippel bringt ihn in dauernde Schwulitäten. Die Szenen überpurzeln sich, die Suada ist voll Witz, wirkt sturzbachartig, das Vorfeld für Nestroy wurde hier bereitet.

Unter der gewandten Regie von F. F. M. Sauer ist Josef Pechhacker in beiden Stücken der temperamentvoll Behäbige in selbstbereiteten Nöten, gibt Werner Rest zweimal drollig einen Kümmerling. Unter den weiteren Mitwirkenden heben sich Renate Pfeiffer und Senta Maria Parsons heraus. Von Werner Rest stammen auch die reizvoll graphisch, mit Schraffuren auf weißem Grund gelösten Bühnenbilder.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung