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Extremsituation aktiviert Kräfte

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Die Situation Überlebender auf hoher See ist nicht nur Thema für Freizeitskipper, sondern aussagekräftig für menschliches Verhalten in vielerlei Notlagen: Was kann der Mensch alles aushalten?

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Die Situation Überlebender auf hoher See ist nicht nur Thema für Freizeitskipper, sondern aussagekräftig für menschliches Verhalten in vielerlei Notlagen: Was kann der Mensch alles aushalten?

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Seefahrt mit eigenen odergecharterten Yachten wird auch in Binnenländern Hobby von immer mehr Menschen. Andererseits: Nicht nur in Armeen aller Länder trainieren Spezialtruppen Härte - auch daraus wird Hobby. Was der Mensch aushält, interessiert immer mehr Menschen. Das Buch „Mayday -Yachten in Seenot“ von Joachim Schult behandelt beide Themen. Es wurde in kurzer Zeit zum Standardwerk der Freizeitschiffer und erzählt Beeindruckendes über das Überleben in Krisensituationen, unter denen der Schiffbruch zu den extremsten zählt.

Ob der unfreiwillige Weltrekord des Foon Lim im Überleben auf See je übertroffen wird ? Er fuhr auf dem britischen Frachter „Ben Li-mond“, der am 23. November 1942 von einem deutschen UBoot versenkt wurde, sprang unmittelbar vor der Explosion des Schiffes mit der Schwimmweste in der Hand von Bord und rettete sich zwei Stunden später in eines der Rettungsflöße, die sich beim Sinken automatisch vom Schiff gelöst hatten. Er fand darin Proviant, Trinkwasser, Medikamente und Signalraketen.

Tage später sichtete er ein abgeblendet fahrendes Schiff und schoß eine Rakete ab, aber sie wurde -sicher bewußt und weisungsgemäß — ignoriert. Ein anhaltendes Schiff bot deutschen U-Booten ein zu gutes Ziel. Die Vorräte waren bald verbraucht, aber es regnete oft und er benutzte seine Schwimmweste als Trichter zum Auffangen von Trinkwasser. Aus der das Floß umlaufenden Griffleine und einem mit den Zähnen krumm gebogenen Nagel machte er eine Angel, später konnte er auch Seevögel fangen.

Viele Schiffbrüchige berichten, daß sich ermüdete Vögel mitunter sogar auf ihren Schultern niederließen. Das Floß trieb westwärts. Nach vier Monaten wurde es von einem Flugzeug gesichtet, aber wieder verloren. Am 130. Tag wurde Poon Lim, zum Skelett abgemagert, zehn Seemeilen vor der brasilianischen Küste von Fischern gerettet.

Im Sommer 1940 hatten die jungen britischen Seeleute Wilbert Widdicom und Robert Tapscott die Torpedierung der „Anglo-Saxon“ im Nordatlantik 70 Tage überlebt Einen winzigen Vorrat Schiffszwieback konnten sie bis zum 34. Tag strecken, ab dem 53. Tag gerieten sie in schwere See und mußten das Boot immer wieder ausschöpfen. Sie aßen bereits die Haut, die sich von ihren Körpern abschälte. Sie Waren ohne Bewußtsein, als sie auf den Bahamas angetrieben wurden. Die Ärzte gaben sich große Mühe, sie wieder einsatzfähig zu machen. Widdicom ging zwei Wochen nach einem dreimonatigen Genesungsurlaub mit dem nächsten Schiff unter.

Schiffbrüche gibt es auch im Frieden. Schult will helfen, kritische Situationen zu vermeiden, in die man durch Unkenntnis oder Unvorsichtigkeit gerät. Maralyn und Maurice Bailey trugen aber keine Schuld am Ereignis, durch das sie im März 1973 in die Lage gerieten, 118 Tage in einem Gummirettungsfloß und einem 2,70 m langen Schlauchboot zu verbringen - bis heute „Überlebensrekord“ schiffbrüchiger Freizeitsegler.

Ihre Yacht wurde 300 Seemeilen nördlich der Galapagos-Inseln von einem Wal gerammt und sank. Physisch hielten sie durch Angelkenntnisse undAuffangen von Regenwas-ser durch, psychisch wurden neben den typischen körperlichen Verfallserscheinungen aller Langzeit-Schiffbrüchigen (Gelenksversteifungen, Muskelschwund, Gewichtsverlust, Hautkrankheiten) die acht Schiffe zum Hauptproblem, die vorbeifuhren, ohne sie zu sehen.

Nord- und Ostseeskipper neigen dazu, das Mittelmeer gröblich zu unterschätzen, vor allem im Winter. Aber auch im Sommer kann es ganz plötzlich bösartig werden.

Eine hohe Welle ließ in der Nacht auf den 14. Juni 1983 wenige Meilen östlich von Menorca einen Trima-ran kentern, drei Männer verbrachten acht lange Tage ohne alles in einem schwabbeligen Gummifloß, ehe sie 100 Seemeilen vor der afrikanischen Küste aufgefischt wurden. Ihre Überlebensstory lehrt, wie wichtig es in kritischen Situationen ist, alle Kenntnisse anzuwenden. Da überhaupt kein Wasser vorhanden war, gab es auch keines einzuteilen. „Psychisch und physisch auf dem Nullpunkt“, halb hegend, halb sitzend auf einer Fläche von 1,2 mal 1,2 Meter, kamen sie zur Einsicht, daß sie ohne Flüssigkeitsaufnahme keine Überlebenschance hatten. Trinken von Meerwasser ist nach alter Seemannsregel der Anfang vom Ende.

Sie dachten aber weiten Jeder nimmt mit der täglichen Nahrung bis zu 20 Gramm Salz auf, 90 Prozent davon werden über die Nieren ausgeschieden. Sie zwangen sich also, täglich pro Kopf 0,5 bis 0,7 Liter Seewasser - drei bis vier Schlucke jeweils um sechs, zwölf und 18 Uhr-zu sich zu nehmen und möglichst wenig Schweiß - Wasser mit geringem Salzgehalt! - abzusondern, sich wenig zu bewegen und die Haut mit feuchten Textilien zu kühlen. Sie wurden in verhältnismäßig guter Verfassung gerettet, die 0,7 Liter Meerwasser pro Tag waren nach Ansicht der Ärzte eher zu viel als zu wenig. Auch diese Schiffbrüchigen hatten Begegnungen mit Schiffen, von denen sie eines fast überlaufen hätte.

Die wichtigste Ressource in Extremsituationen sind Überlebenswille und die Fähigkeit, die Hoffnung nicht aufzugeben. Zwar haben gutgenährte Erwachsene mit entsprechenden Wasservorräten im Gewebe die besten Chancen, trotzdem überlebte das amerikanische Ehepaar Robertson 1972 nach der Zerstörung seiner Yacht durch Killerwale mit zwölfjährigen Zwillingen und zwei Erwachsenen 3 7 Tage, 18 da von in einem 2,8 5 Meter langen Boot, das 12 Zentimeter aus dem Wasser ragte.

Der Amerikaner Wortman lebte mit seinen 12,15 und 16 Jahre alten Kindern auf einer vereisten Felseninsel Alaskas 26 Tage von Seetang und Muscheln. Auf einem selbstgebauten Floß legten sie dann die lange Reise zur nächsten bewohnten Insel zurück. Sie erlitten Erfrierungen, aber alle kamen durch.

Viel vom heutigen Überlebens-Knowhow ist dem französischen Arzt Alain Bombard zu verdanken, der sich 1952 in 65 Tagen mit dem Schlauchboot von den Kanarischen Inseln nach Barbados treiben ließ, um seine Theorie vom Überleben auf hoher See zu verifizieren. Trotzdem sind die Notfallsausrüstungen noch lange nicht frei von Mängeln. Die rote Signalfarbe auf der Oberseite der automatisch aufblasbaren Gummiflöße etwa macht aufgefangenes Regenwasser ungenießbar.

In einer Zeit, in der kaum mehr ein Schiff mit Bug-Ausguck fährt, die Leute auf den Kommandobrükken dank Radar und automatischer Steueranlage nur noch dann und wann einen Blick aufs Meer werfen und auf Tankern unterqualifizierte Leute oft nicht einmal den Radarschatten einer Yacht erkennen, wächst für Einhandsegler (Alleinsegler) die Gefahr, im Schlaf überrannt und zermalmt zu werden. Schult hält dies für die häufigste Ursachefür das spurlose Verschwinden von Yachten. Einhandsegeln ist zur Bewährungsprobe für Hunderte geworden. Als nach einer Seenotmeldung mit Bitte um besondere Aufmerksamkeit auf Frachtern und Tankern sorgfältiger Ausschau gehalten wurde als sonst, wurden in wenigen Tagen gleich mehrere Begegnungen mit gekenterten Booten oder „Geisteryachten“ -ohne einenMenschen an Bord - im Atlantik registriert.

Der Schiffbrüchige muß sich darauf einstellen, übersehen zu werden. Schocks dieser Art sind Teil seiner Extremsituation. Nur eine geringe Chance, den 450 Seemeilen entfernten Schiffahrtsweg über den Atlantik zu erreichen, rechnete sich Steven Callahan nach der Kollision mit einem treibenden Hindernis und dem Sinken seiner Yacht Anfang Februar 1982 aus. Vier Liter Wasser und eineinhalb Kilogramm feste Nahrung hatte er retten können -zum Glück auch die Harpune, die er aus Platzmangel in seinem Notfallsbeutel verstaut hatte. Von drei vorhandenen Destilliergeräten funktionierte eines und erzeugte einen halben Liter Trinkwasser pro Tag. Das Regenwasser wurde auch hierdurch den Signalanstrich der Rettungsinsel ungenießbar.

Callahan erreichte die Schiffahrtsstraße nach 40 Tagen und sah mehrere Schiffe. Zwei fuhren in einer Meile Entfernung vorbei. Er trieb quer durch die Straße und erreichte nach insgesamt 76 Tagen die Insel Marie-Galante.

Die Extremsituation des Schiffbruches mobilisiert nicht nur den Überlebenswillen, sie macht Menschen offenbar auch solidarisch. Schiffbrüchige verhalten sich meist umsichtig. Die Not aktiviert seelische und intellektuelle Kräfte.

Beim Schiffbrüchig-Werden hingegen sind, ebenso wie bei Unfällen auf der Straße, oft Fehlreaktionen beteiligt, die nicht auf mangelnde Kenntnisse zurückgehen, sondern darauf, daß das Gelernte im entscheidenden Moment nicht angewendet wird. Panik führt zu Fehlhandlungen. Gegenstück dazu ist Untätigkeit in Panik, Lähmung der Entschlußkraft

Oft ist Sorglosigkeit vorangegangen. Ein Horrorkapitel ist die Aufzählung tödlicher „Mann-über-Bord“-Unfälle. Schult, der als junger Seemann 1942 nach einem Schiffsuntergang verwundet zwei Stunden im eiskalten Nordatlantik trieb und im Dezember 1944 nachts bei der Rettung Schiffbrüchiger von Bord gewaschen und nur durch einen unglaublichen Zufall aufgefischt wurde, warnt davor, auf so viel Glück zu hoffen: Wer bei keineswegs besonders starkem Seegang von einem segelnden Boot fällt, hat nur geringe Chancen. Keine Gefahr, die Freizeitskippern droht, wird allgemein so sträflich unterschätzt Viele Einhandsegler kommen ums Leben, indem sie vom Boot fallen.

Die Überlebenschance eines einsamen Schwimmers im Meer ist gleich Null, wenn er sich aufgibt -gibt er sich nicht auf, fast Null Der am 24. Dezember 1955 nach einer feuchtfröhlichen Weihnachtsfeier in der Karibik über Bord gefallene norwegische Matrose Nicolaysen wurde 29 Stunden später auf einem anderen Schiff gehört, ab er schrie: „Hilf e! Mann über Bord!“ Er hatte die 29 Stunden „mit Schwimmen, mit Sichtreibenlassen, wechselweise mit Hoffnung und Hoffnungslosigkeit und dann mit Beten“ verbracht - und sein Wissen über Haie angewendet. Sie sind äußerst vorsichtige Tiere. Er ließ seine Hose ein Stück hinunter, so daß die Beine beim Schwimmen ein klatschendes Geräusch erzeugten und machte sich „zu einer Art Unterwasser-Vogelscheuche“.

Oft wird gegen die Regel verstoßen, ein Schiff nur zu verlassen, wenn es tatsächlich sinkt Mehr als einmal kam die vorzeitig von Bord gegangene Besatzung ums Leben, ihre Yacht wurde Tage oder Wochen später irgendwo angetrieben.Auch die Extremsituation ist etwas, was der Mensch erst zur Kenntnis nehmen, worauf er „sich einstellen“ muß. Darum ist das „geistige Trok-kenschwimmen“ für den, der mit Gefahrensituationen rechnen muß, so wichtig: Wird das richtige Verhalten im Kopf oft genug durchgespielt, hat man im Ernstfall bessere Chancen, es richtig zu machen.

Da fast alle Schiffbrüchigen davon berichten, ist das Hin und Her zwischen Hoffnung und Verzweiflung wohl sehr typisch. Am Ende steht nicht Verzweiflung, sondern Apathie mit euphorischen Elementen. Als das Ehepaar Bailey nach 43 Tagen wieder ein Schiff sah und Maralyn Bailey ihre Weste schwenkte, dachte ihr Mann: „Es soll wegbleiben, das hier ist unsere Welt, das Meer, die Vögel, die Fische, die Schildkröten.“

Der Einhandsegler Wolfgang Kraker von Schwarzenfeld mußte sich 1957, als er am 18. Tag nach dem Kentern seines Trimaran wieder ein Schiff sah, zwingen, zu winken. Nachdem ihn zwei Schiffe auf Gegenkurs passiert und einander über seinen Kopf hinweg mit der Morselampe „Glückliche Reise“ signalisiert hatten, hatte er aufgehört, Fische zu fangen oder aus der hohlen Hand Seewasser zu trinken. Schiffbrüchige am Ende ihrer Kräfte träumen von der Rettung als etwas sehr Fernem, wie Gefangene von der Freiheit.

Die Kannibalismus-Legenden stammen hauptsächlich aus Zeiten, in denen man von den physiologischen Vorgängen in todesnahen Situationen nichts wußte. Während in der akuten Krise eine massive Adrenalin-Ausschüttung hilft, alle Reserven zu mobilisieren, werden im Lauf einer tage- und wochenlangen Notsituation viele seelische Vorgänge durch die Wirkung der Endorphine, körpereigener, chemisch dem Morphium eng verwandter Stoffe, gedämpft. Über die Steuerung dieser biochemischen Mechanismen weiß man noch sehr wenig.

MAYDAY - YACHTEN IN SEENOT. Von Joachim Schult Ddius Klasing Verlag. 352Seiten, Tafeln und Abbildungen, Ln., öS 296,40.

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