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Fahrlässige Tötung

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Sie schlug mit dem Kopf gegen die Scheibe, während mir das Lenkrad die Rippen eindrückte. Ihr Schädel zerbrach, während mir nur das Bauchfell riß. Der Kopf ist empfindlicher als alles andere: ein Knochenbau, der keine Frakturen verträgt, exponiert wie sonst nichts. Das Herz zum Beispiel ist durch Musljelschichten und durch einen Rippenkäfig geschützt. Das Lenkrad kam nicht an mein Herz. Man hätte das Gehirn ins Innere verlegen müs-

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Sie schlug mit dem Kopf gegen die Scheibe, während mir das Lenkrad die Rippen eindrückte. Ihr Schädel zerbrach, während mir nur das Bauchfell riß. Der Kopf ist empfindlicher als alles andere: ein Knochenbau, der keine Frakturen verträgt, exponiert wie sonst nichts. Das Herz zum Beispiel ist durch Musljelschichten und durch einen Rippenkäfig geschützt. Das Lenkrad kam nicht an mein Herz. Man hätte das Gehirn ins Innere verlegen müs-

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sen, als Zentrum, um das die Organe sich gruppieren, und zwar so, daß die wichtigen innen, die weniger wichtigen außen sind. Natürlich ist diese Überlegung unsinnig.

Ich stehe in der Küche und starre in den Kühlschrank, der früher immer gefüllt war. Der Kühlschrank ist leer, produziert sinnlose Kälte, die sich sinnlos erhellt, wenn ich öffne. Diese plötzliche Beleuchtung der Kälte hat unheimliche Bedeutungen angenommen.

Manchmal ist allerdings von irgendeiner Speise, die einem schon zum Hals heraushängt, eine Riesenportion da. Oder fünf Flaschen ungenießbarer Erfrischungsgetränke. Das Werk meiner Tochter.

Dabei habe ich meine Tochter geliebt. Das war vor zehn Jahren, und es war nicht diese hektische Spielerei mit anderen Menschen, die man sich unterwerfen will (das nennen sie doch Liebe), sondern es war wie eine Strahlung, die den ganzen Körper gleichmäßig erwärmt. Auch auf die Frau (ich sage mit Absicht die Frau, um den Ausdruck meine Frau, den ich nicht leiden kann, zu vermeiden) übertrug ich ein wenig von dieser Liebe: sie hatte das Kind geboren, sieteorg-te für das Kind.

Aber leider ging die Sorge nach und nach über das Animalische hinaus, und sobald eine Sorge über das Animalische hinausgeht, ist sie schon verdächtig. Was sich wie zufällig reiht, Meinungen, Gewohnheiten, Redensarten -, das alles verdichtet sich zu einem tödlichen System. Und schneller als man glaubt.

Dann mußte ich mein Kind den Lehrerinnen auslief ern, diesen aufgegebenen Frauen, die in alten Aktentaschen Käsebrote und Thermosflaschen mittragen. Das Lächeln meiner Tochter wurde mir gründ-

lich getrübt. Ja sogar die Haare meines Kindes verloren an Glanz. Etwas Hinterhältiges sammelte sich in ihm, ein Gift, das in jedes Lächeln, jede Bewegung einströmte. Und es war, als bestünde ein unterirdischer Zusammenhang zwischen mir und meinem Kind, eine einzige Giftquelle, aus der wir beide zu trinken bekamen. So endeten unsere Spiele, so hörten unsere Haare zu fliegen auf.

Ich begann zu altern. An meinem Körper bildeten sich häßliche Falten: nach innen, wo etwas vertrocknete, und nach außen, wo ich etwas Überflüssiges nicht mehr los wurde. Nach Jahren, die immer schneller sich abspulten, wurde ich plötzlich von jüngeren Augen fixiert, bemerkte erschrocken etwas Neues, Unverständliches, Fremdartiges, das mich mit Auflehnung und Spott taxierte.

Mein Kind war nicht mehr mein Kind, es war ihr Kind geworden, sie schien es nun ganz zu verstehen. Die Entwicklung, die ich verfluchte, erfüllte sie mit Stolz. Sie steckte mit den Lehrerinnen zusammen, teilte mit ihnen die Prinzipien der Zerstörung. Denn wer sich für dieses Leben, das ich vor mir sehe, zurechtmachen läßt, der wird zerstört.

Ich schwieg immer mehr, trieb mich in Gasthäusern herum, und manchmal wünschte ich die Frau zum Teufel. Da gibt es doch diese Witze, die vom Tod der Ehefrau als von einer Erlösung sprechen; man hat darüber gelacht, über den einen zum Beispiel, der den Vergleich mit einem scharf gewürzten Bissen bringt, von dem die Augen tränen, während das Herz lacht.

Nicht umsonst sind diese Witze erfunden, sie drücken einen allgegenwärtigen Wunsch aus, und weil man ihn nicht erfüllen kann, spricht man ihn wenigstens aus, macht sich Luft, und wirft ihn einander zu, verkleidet als Witz.

Doch wenn er erfüllt wird, dann lacht das Herz nicht; es erschrickt, als sei etwas Ungeheuerliches eingetreten, das man niemals gewünscht hat. Dann kommt der bekannte, im Schrecken gesprochene Satz: Das habe ich nicht gewollt! -Ja was hast du denn dann gewollt? Da liegt die Welt verwüstet nach deinem heimlichen Wunsch und der scharf gewürzte Bissen schmeckt dir nicht; die Augen tränen, doch das Herz lacht nicht.

Und warum? Was ist es, das dich lähmt? Ist es vielleicht nur der Schrecken darüber, daß dich die gewohnte Misere nicht mehr umgibt und an ihre Stelle eine ungewohnte getreten ist? Gewohnheiten sind so stark, daß man selbst an den täglichen Schimpfworten hängt und in ihnen Wurzeln schlägt. Und

hundert völlig nichtige Haltegriffe, an die du dich Tag für Tag angeklammert hast, sind abgerissen. Der Kühlschrank ist nicht angefüllt wie früher. Wenn es das allein wäre, müßtest du froh sein, daß alles so gekommen ist. Wenn dein Leben so erbärmlich war, daß es nur mehr auf ein Anklammern an den täglichen Haltegriffen hinauslief, dann solltest du froh sein, daß alles abgerissen ist. Vielleicht bist du nur zu schwach, die Wahrheit des Witzes zu erkennen: die Augen tränen, doch das Herz lacht.

Wenn ich so stark wäre, mein Herz zum Lachen zu bringen, wäre es das Herz eines Mörders. Fahrlässige Tötung nannte es das Gericht. Ich nannte es Zufall. Schließlich hatte ich öfters ein wenig getrunken und war dann gefahren. Ich verstand nicht, warum man mich anklagte. Fahrlässige Tötung, das ist doch unsinnig. Zwischen der Fahrlässigkeit und der Tötung besteht hier kein direkter Zusammenhang. Und überhaupt - was soll das Wort Tötung bedeuten? Ich sagte ihnen: „Die Frau ist tot; was wollen Sie jetzt

noch? Wollen Sie sie an mir rächen?" Sie machten betretene Gesichter und setzten mir Wortfossilien vor, Äe sie aus ihren antiken Folterkammern zogen. Fahrlässige Tötung, von mir aus, doch vielleicht wird es noch Mord. Wenn ich mein Herz solange stärke, bis es lacht, dann verwandle ich die Tötung in Mord. Ich würde es tun, wenn ich könnte. Was kümmert es mich jetzt, da nichts mehr zu ändern ist, ob ich ein Mörder bin oder nicht? Es wäre mir gleichgültig, wenn ich mein Herz nur zum Lachen brächte.

Doch diese Anstrengung ist vergebens. Zwar habe ich sie zum Teufel gewünscht, doch ihr Tod befreit mich nicht. Ein solcher Wunsch ist ein Affekt, und was besagt ein Affekt vor einer Wirklichkeit, deren Kälte bis zum Horizont sich dehnt?

Manchmal spüre ich Feuchtigkeit in meinen Augen. Es ist nicht Trauer um sie. Es ist Mitleid mit mir selbst. Und jetzt weiß ich, was das Unheimliche des Kühlschranks bedeutet, dessen Leere sich erleuchtet, wenn ich öffne: Es ist lias Abbild der Leere eines größeren Kühlschranks, der ein Tier von meiner Statur erwartet, um sein Fleisch zu konservieren bis zur Beschau.

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