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Fast ein Poet

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Rilke heute — das ist eine schwierige Sache. Nicht für den Leser: der blättert in dem Buch, verweilt da und dort, ist gefesselt oder ein wenig ärgerlich, manche Stellen charmieren Ihn, andere findet er ein bissei komisch. Aber der Rezensent, der ein Urteil abgeben soll? Ihm geht es nicht so gut, wie dem Leser als Liebhaber. Denn auch er ist hin und her gerissen, doch mag er sich damit trösten, daß Rudolf Borchardt keines von den vielen Rilke-Gedichten in seinen „Ewigen Vorrat deutscher Poesie“ aufgenommen hat, eine wahrhaft bedeutende Sammlung, und daß ein Dichter, der Rilke so freundschaftlich und durch Sympathie verbunden war wie Hofmannsthal, sein ganzes Leben lang mit dem Phänomen Rilke nicht zurecht kam. Zu Kassner, der gleichfalls ein eher ambivalentes Verhältnis zum Autor der „Duineser Elegien“ hatte, sagte einmal Hofmannsthal, in Rilke sei wohl die Materie zu einem Dichter vorhanden, das sei aber auch alles, das Letzte fehle ihm, er sei kein wirklicher Dichter. Ein anderer bedeutender Kollege sprach von „Emanationen“, sehr eigenartigen; aber das seien doch noch lange keine Gedichte ...

Was den Rezensenten dieses Buches ein wenig voreingenommen macht, im negativen Sinn, das sind die vielen Korrespondenzen von mindestens einem Dutzend Rilke-Witwen, literarischen natürlich nur, von denen etwa die Hälfte als „halbseiden“ zu bezeichnen ist und mit denen Rilke unverantwortlich viel Zeit vertrödelt hat. Gewiß, es ist viel von seiner Produktivität in diese Korrespondenzen eingeflossen, und es gibt kritische Leser, die von Rilkes Briefen mehr halten als von manchen seiner Dichtungen. Diesen möchte man entgegenhalten: aber die „Neuen Gedichte“, „Das Buch der BUder“, „Die Sonette an Orpheus“, den „Malte Laurids Brigge“. Doch dann kann man als Replik zu hören bekommen: „Die Weise von Liebe und Tod des Corne'ts Christoph Rilke“ — ist das nicht Edelkitsch? Und was sagen Sie heute zum „Stundenbuch“ und zu den „Geschichten vom lieben Gott“? Und dann blättert man noch einmal in den Gedichten — und erlebt immer wieder die Wiederbegegnung mit Jugendlieben, die lassen wir uns durch nichts vergrau-sen, zumal wir manche davon in-und auswendig kennen ...

Nun aber zu den soeben erschienen „Tagebüchern aus der Frühzeit“, herausgegeben von Rilkes Tochter Ruth und dem Schwiegersohn Carl Siber (die sich vor kurzem umgebracht haben), ausführlich und gewissenhaft kommentiert sowie mit einem Nachwort versehen von Dr. Ernst Zinn. Dieser Band vereinigt „Das Florenzer Tagebuch“ vom April bis Juli 1898, das „Schmargendorfer Tagebuch“ von Juli 1898 bis September 1900 und das „Worpswe-der Tagebuch“ vom September bis Dezember 1900. Aber es sind keine „echten“ Tagebücher, diese Blätter wurden jeweils einige Monate später geschrieben: Erinnerungen an Gesehenes, Gefühltes, Gedachtes, Begegnungen mit Menschen, auch berühmten, wie Vogeler und Hauptmann, nicht nur mit jungen Malerinnen, und Begegnungen mit Kunstwerken, von Orcagna vor allem, von Giotto, Michelangelo, Leonardo und anderen.

Nehmen wir das „Florenzer Tagebuch“ — schon der Titel ist ärgerlich —, und wer unmittelbar vor diesem das treffliche, genaue, wohlfun-dierte, zugleich aber auch dichterische und blitzgescheite. Florenz-Buch von Mary McCarthy gelesen hat, wie der Rezensent, der tut sich mit Rilkes Beschreibungen schwer: so unsicher in der Kontur, so wenig anschaulich sind die Beschreibungen, so unerträglich Ich-bezogen. Aber da diese Tagebuchblätter als Briefe an Lou Andreas Salome geschrieben wurden, erklärt sich manches, macht die Sache aber auch nicht besser. Und die beiden andern Diarien? Rilke schreibt Rilke-Prosa, egal worüber. (Natürlich kommt die Malerin Clara Westhoff, die spätere Frau Rilkes, häufig vor.)

Das Merkwürdigste: in dem Zeitraum, den diese Tagebücher spiegeln, hat Rilke zwei Rußland-Reisen unternommen. Aber sie werden hier kaum erwähnt. Dafür sind einige Gedichte in russischer Sprache (und kyrillischer Schrift) wiedergegeben, die voller grammatischer und syntaktischer Fehler stecken. Kann ein Dichter so etwas verantworten? Rilke schien es erlaubt, denn die „Qua-tralns Valalsans“ sind ihm später gut gelungen, das wurde wiederholt von kritischen Franzosen bestätigt. Also auch auf diesem Gebiet „schwimmen“ wir ein wenig mit unserem Urteil.

TAGEBÜCHER AUS DER FRÜHZEIT. Von Rainer Maria Rilke. Herausgegeben von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber. Insel-Verlag. 275 Seiten.

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