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Fastengebete

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Vater im Himmel, manche Leute glauben, du hast den Katholiken das Fasten befohlen und die Protestanten davon befreit.

Wir aber wissen schon, was dich am herkömmlichen Fasten stört: daß Christen damit auffallen wollen und Lohn erwarten von dir; daß Christen fasten und gleichzeitig streiten und mit gottloser Faust zuschlagen; daß Christen ihren Kopf hängen lassen und sich in „Sack und Asche betten”. Darum bitten wir dich: Laß uns so fasten, wie es dir gefällt.

Daß wir die loslassen, die Unrecht leiden; daß wir die befreien, die unterdrückt werden, daß endlich jede Ausbeutung aufhört.

Daß wir den Hungrigen zu essen geben und den Obdachlosen eine Wohnung; dem Verwahrlosten ein Gewand und für unsere Mitmenschen Zeit haben.

Wir wissen ja längst, daß dann unser Licht hervorbrechen wird wie die Morgenröte und wir endlich zufrieden sein werden und ausgeglichen.

Und unsere Gerechtigkeit wird vor uns hergehen, und deine Herrlichkeit wird unseren Zug abschließen. Und wir werden deine Stimme hören ein Leben lang.

* * *

Wir finden dich - jeder auf seine Weise, Gott. In der Kirche, in einer Diskussion, beim Helfen; beim Lieben oder draußen in den Bergen oder irgendwo ganz allein.

Zu dir führt kein Dienstweg und keine Magie.

Du durchbricht alle Sperren der Seele und rührst unser Herz mit einem Wort an. Du befreist aus jeder Sklaverei und läßt uns wie Menschen leben.

Du führst uns von den Fleischtöpfen Ägyptens hinaus in die heilige Wüste, aus der Gefangenschaft der Schablonen ins Denken, in die Fülle des Lebens, in deine Herrlichkeit.

Gott, du hast das Brot geschaffen und die Butter, aber auch den Kaviar, das Beefsteak und die Salzburger Nockerln.

Du mußt selbst ein großer Genießer sein, weil du uns so einen anspruchsvollen Gaumen geschenkt hast und dazu den Magen, der das alles verdauen kann. Aber laß uns nicht vergessen, daß wir auch am reichgedeckten Tisch nur den kleinen Hunger stillen können.

Denn den Hunger nach einem sinnvollen Leben, nach Freude, nach dir, stillt nicht das große Fressen, sondern die Menschen, mit denen wir am Tisch sitzen.

Und dann du selbst, wenn du uns eines Tages zu deinem himmlischen Freudenmahl rufen wirst.

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