Das Eintagebuch

Ich brauche eine Entzugsklinik, die es noch nicht gibt: eine, in der man von zwanghaftem Kauf von Schulheften, Notizbüchern und Schreibblocks geheilt wird. Wo auch immer ich hinkomme – eine Rückkehr ohne neues Notizheft ist unmöglich. Kisten mit leeren Heften stapeln sich in der Wohnung. Dabei sind die leeren Hefte nicht die schlimmsten. Die schlimmsten sind die, die beschrieben wurden – oder sagen wir besser: begonnen wurden.

Ein häufiger Anfang: Jeder erste Januar legt das Vorhaben nahe, ein Tagebuch zu beginnen. Klar, es ist der erste Tag des Jahres, und wenn man durchhielte, wäre das Jahr komplett. Doch es gibt in meinen Tagebüchern kaum Einträge vom 2. Januar irgendeines Jahres. Vom 3. Januar überhaupt keine. Es sind Eintagebücher (oder höchstens Zweitagebücher). Indem ich zu schreiben begonnen habe, ist das Heft nun völlig unbrauchbar. Nehme ich es Monate oder Jahre später zur Hand und lese den einzigen Eintrag, kann ich nur feststellen, wie unbedeutend mein Leben an Tagen mit dem Datum 1. Januar ist. Und das Heft? Ein Jahr später weiterschreiben? Die einzig beschriebene Seite herausreißen und das Heft für etwas anderes nutzen? Es zum Altpapier geben?

Und dann gibt es ja noch andere „Projekte“, die über eine Seite nicht hinauskommen: Singspiele, Romane, Exzerpierhefte oder das erste brauchbare deutsche Silbenlexikon.

Vielleicht gibt es eine Klinik, die bald meinen Entzug in ihr Programm aufnimmt. Oder die Papierindustrie reagiert mit einem Ein-Blatt-Notizbuch. Vor zwei Jahren war ich anlässlich der Digitalisierung der Tagebücher von Andreas Okopenko im Institut für Germanistik. Ein Experte erklärte dort, warum bei professioneller Digitalisierung auch alle Leerseiten von Heften erfasst werden müssen. Das hat mir Trost gespendet. Ich weiß nun, was ich der Welt hinterlassen werde.

Der Autor ist Schriftsteller.