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Erscheinung in der Stadt

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Am Ende der achtziger Jahre gab es in Amsterdam immer wieder Meldungen, die Mutter Gottes sei bei der Straßenbahnhaltestelle am Van-Limburg-Sti-rumplatz erschienen. Die Erscheinungen sollten zirka zehnmal (1987 bis 1989) stattgefunden haben. Augenzeugen berichteten über ein grünes Licht, das sich allmählich in eine Frauengestalt verwandelt habe. Auf der Terrasse des Kaffeehauses „Endstation Sehnsucht” versammelten sich regelmäßig Damen im höheren Semester mit Kerzen, Rlu-men und Rosenkränzen. Mit dem Aufhören der Erscheinungen werden wohl auch diese Kaffeehaus-Wallfahrten aufgehört haben.

Warum haben diese Erscheinungen heute keine Gläubigen mehr? Natürlich, die Glaubwürdigkeit war gering. Nicht jede erscheinende grüne Frauengestalt muß unbedingt Maria sein. Die Kirche negierte die Erscheinungen gänzlich. Aber warum verschwanden die Gläubigen? Man kann nicht behaupten, daß die Rereitschaft, an Übernatürliches zu glauben, in einer Großstadt keinen Platz hat.

Wer einen Esoterikmarkt besucht, weil ein Erotikmarkt ihm doch zu dumm war, sieht, daß auch Großstadtmenschen durchaus bereit sind, auch die sonderbarsten Dinge zu glauben. Warum dann nicht diese Marienerscheinungen? Ich denke: weil Straßenbahnhaltestelle und Marienerscheinung nicht zusammenpassen. Besonders nicht, wenn sich in der Nähe eine Werbung für grüne Erbsen befindet. Erscheinungen verbinden wir mit Kindern im ländlichen Raum, nicht mit Straßenbahnhaltestellen.

Dennoch: Wer jetzt durch Wien geht, sieht, wie überall die Stadt mit sogenanntem Adventzauber gerüstet wird. Oder wenigstens mit dem, was die Gemeinde Wien sich unter Adventzauber vorstellt. Tatsächlich kommt einem die Stadt schon etwas verwandelt vor, und es verwundert nicht, daß es möglicherweise einen Stadtrat für Visionen geben wird. Erscheinungen sind nicht mehr auszuschließen. Man soll sich nicht wundern, wenn man bei einer Straßenbahnhaltestelle einen nachdenklichen Engel warten sieht, der dich anschaut, als ob du ihm aus lang vergessenen Jugendjahren erinnerlich bist.

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