Fall T.: Verdächtiger Eifer

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Indem man einen prominenten Straftäter zum Ungeheuer macht, schiebt man das Problem Pädophilie aus der Mitte der Gesellschaft – so weit wie möglich von sich weg.

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Indem man einen prominenten Straftäter zum Ungeheuer macht, schiebt man das Problem Pädophilie aus der Mitte der Gesellschaft – so weit wie möglich von sich weg.

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Erstaunlich schnell wurde der Fall T. zum Fall Burgtheater. Die Anheizer in den „sozialen Medien“ ergingen sich in wüsten Beschuldigungen; als wäre die Tat dort geschehen. Der Direktor, hieß es auch in seriösen Blättern, habe dem Schauspieler seit den ersten Gerüchten 2021 blauäugig Glauben geschenkt, anstatt bei der Polizei seinen Strafakt „anzufordern“ (Falter) – als könnten Arbeitgeber das in einem Rechtsstaat. Die grundrechtliche Unschuldsvermutung war bloß noch höhnischer Erwähnung wert. Hat sich irgendwer überlegt, was mit jemandem im Kulturbetrieb geschähe, der bloß auf einen solchen Verdacht hin suspendiert würde, ohne dass dieser Verdacht sich schließlich bestätigte? Ist denn überhaupt jemandem dadurch etwas zuleide getan worden, dass T. nach Beginn der Ermittlungen gegen ihn weiter in Film und Theater tätig war? Freilich hat er alle düpiert. T. hat die Gefühle des Direktors, des Ensembles, der Filmcrew verletzt, indem er sie belog – aber der moralische und strafrechtliche Aspekt des Falles bewegt sich doch in einer anderen Dimension.

Weshalb meinen viele, das Selbstverständliche sagen und Kindesmissbrauch „verurteilen“ zu müssen? Woher kommt der Ruf nach Bestrafung über das Gesetz hi­naus? Der Wunsch nach einer damnatio memoriae? Der Burgtheaterdirektor berichtet, man habe sämtliche Kostüme des Beschuldigten entsorgt. Der Strafvollzug in demokratischen Gesellschaften setzt nicht auf lebenslange Ächtung, er räumt sogar dem verurteilten Mörder das Recht auf Resozialisierung ein. Vielleicht hat die überschießende Reaktion damit zu tun, dass nach Schätzungen ein Prozent aller Männer pädophile Neigungen hat. Das sind viele, die zum Schutz von Kindern Hilfe benötigen. Indem man einen prominenten Straftäter zum Ungeheuer macht, schiebt man das Problem aus der Mitte der Gesellschaft – so weit wie möglich von sich weg.

Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin.

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