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Ich stelle mir Andris Nelsons als einsamen Menschen vor. Andernfalls hätte es eine gute Seele gewiss zu verhindern gewusst, dass er das Neujahrskonzert im Pyjama dirigiert. Oder was immer das war. Schwarzer Samt mit Stehkragen, Schlabberlook, ein Mittelding aus Hausrock und Mao-Jacke, unter dem man offenkundig ohne Hemd auskommt; mit Schulterpolstern, die bei jedem, zum Dirigierhandwerk gehörenden Hochheben der Arme in die Höhe hüpfen. Um solche Pein für alle zu vermeiden, gibt es die Tradition. Sie sieht für den Mann am Pult tagsüber einen Cutaway vor oder allenfalls einen (ähnlich embonpointfreundlichen) Stresemann. Die Philharmoniker tragen einen Cut von Vivienne Westwood, auch das Publikum ist festlich gewandet. Richtig: Beim Neujahrskonzert geht es um die Musik. Deren Genuss wird einem so aber getrübt – im Fernsehen ist der Dirigent mit Abstand am häufigsten im Bild.

Feierliche Anlässe eignen sich nicht unbedingt zur modischen Selbstverwirklichung. Die Angelobung der Bundesregierung zum Beispiel: Der neue Finanzminister tritt trotzig in seinen berüchtigten türkisen Socken auf. Der neue Vizekanzler kommt, nein, nicht in Hemdsärmeln, aber als Einziger ohne Krawatte. Ein bisschen lächerlich für einen, der alt genug ist, um zu wissen, dass er in der Regierung nicht zu seinem Privatvergnügen sitzt, sondern etwas oder jemanden repräsentiert, den Souverän, das Volk; und dass der Bundespräsident das ebenfalls tut und deshalb Respekt verdient. Auch der Wiederkanzler war zu seiner ersten Angelobung als Staatssekretär mit offenem Hemd erschienen, inzwischen hat er die Demut vor dem Amt zumindest pro forma gelernt. Wie einst Joschka Fischer, der sich als erster grüner Minister im hessischen Landtag in Turnschuhen angeloben ließ und als deutscher Außenminister nur noch Dreiteiler trug, als „Berufskleidung“, wie er sagte.

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