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Feinde - von gestern?

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Der Nationalismus, an der Zypernfrage entzündet, ist in beiden Ländern heute nur noch ein kurzes Aufflammen längst gelöscht geglaubter Brände, doch stehen die beiden Regierungen unter innenpolitischen Gesichtswahrungszwängen. Die Wunden sind vernarbt, nur wenn das Wetter schlecht wird, schmerzen sie noch. Zypern zu befrieden, ist nicht zuletzt ein griechischinnenpolitisches Problem: Beide Seiten, aber mehr noch Griechenland, sind es sich schuldig, nicht nur einen tragfähigen Kompromiß zu produzieren, sondern auch ihr Soll an zur Schau getragener Unbeugsamkeit zu erfüllen. Es geht darum, den Fanatismus zu lokalisieren, zu isolieren.

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Der Nationalismus, an der Zypernfrage entzündet, ist in beiden Ländern heute nur noch ein kurzes Aufflammen längst gelöscht geglaubter Brände, doch stehen die beiden Regierungen unter innenpolitischen Gesichtswahrungszwängen. Die Wunden sind vernarbt, nur wenn das Wetter schlecht wird, schmerzen sie noch. Zypern zu befrieden, ist nicht zuletzt ein griechischinnenpolitisches Problem: Beide Seiten, aber mehr noch Griechenland, sind es sich schuldig, nicht nur einen tragfähigen Kompromiß zu produzieren, sondern auch ihr Soll an zur Schau getragener Unbeugsamkeit zu erfüllen. Es geht darum, den Fanatismus zu lokalisieren, zu isolieren.

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Seit last einem Jahrtausend leben Türken und Griechen im Clinch, leben, in Krieg und Frieden, in jener engen Beziehung, die überall auf der Welt, wo Völker sie erfahren, Haßliebe erzeugt — meist viel Haß und wenig Liebe. Die Zahl der Beispiele ist gewaltig: Deutsche und Franzosen, Flamen und Wallonen, Polen und Russen, Thai und Kambodschaner, Chinesen und Malaien, Japaner und Koreaner und so fort. Es ist typisch für solche Völkerbeziehungen, daß die positiven Früchte des Kulturaustausches abgeleugnet werden, bis der aufgestaute Haß den Kulturaustausch überhaupt beendet.

Griechen und Türken lebten seit dem Aufstieg des osmanischen Imperiums zusammen — oder besser: nebeneinander, in Anatolien ebenso wie auf dem Balkan, auf den ägäi-schen Inseln, auf Zypern und Kreta. Das Nebeneinander von Christen und Moslams in strikter Distanz, das ein Grundpfeiler der vom Millet-Denken bestimmten osmanischen Verwaltung war, konnte nicht verhindern, daß eine starke kulturelle Durchdringung stattfand, Sitten und Gebräuche, die Kleidung, nicht zuletzt die Küche der beiden Völker wurden in der Zeit des Nebeneinanderlebens im osmanischen Reich Immer ähnlicher. Der große englische Historiker Arnold J. Toynbee geht so weit, zu behaupten, daß das orthodoxe Christentum in den türkisch besetzten Gebieten eben dank der Türkenherrschaft überlebte.

Einer lernte die Sprache des anderen — fallweise bis zum Verlernen der eigenen. Türken-Nachkommen in Epirus und Kreta haben sich zwar den mohammedanischen Glauben bewahrt, sprachen aber nur noch Griechisch. Anderseits sprachen die „Ka-ramanli-Griechen“ im Gebiet von Karaman im südlichen Anatolien (etwa auf dem Längengrad von Ankara) nur noch Türkisch, schrieben es aber in griechischen Buchstaben.

Wo die Nachbarschaft am engsten war, gediehen die jeweiligen Nationalismen am besten. Nicht nur Insel-Griechen, auch Insel-Türken verkörperten in vielen Fällen den Nationalismus am extremsten. Allerdings wird der Turanismus, das türkische Gegenstück des Panhellenismus, in der Türkei bekämpft, dies mit gutem (außenpolitischem) Grund. Denn die Inseln des Dodekanes, dieser der anatolischen Küste vorgelagerten, strategisch für die Türkei überaus problematischen Inselkette, sind kein Ziel für nationale Einkassierungsversuche, da diese Inseln rein griechisch besiedelt sind, und zwar von altersher. Hingegen belastet jedes tu-ranistische Grollen die türkischen Beziehungen zur Sowjetunion, wo ja bekanntlich der größte Teil aller Türkisch sprechenden Menschen, weit mehr als in der Türkei selbst, lebt. Einer der wichtigsten Offlziersrevo-lutlonäre des Jahres 1960, Oberst Alparslan Türkes, der seinen gemäßigten Junta-Kollegen mißfiel, weil er für eine Verlängerung des Militärregimes eintrat, wurde auch mit dem Hinweis auf seine turanistlschen Jugendsünden abgehalftert — es war kein Zufall, daß er auf Zypern im griechisch-türkischen Durchdringungsgebiet geboren war. Als Zypern-Türke brachte er es fertig, gleichzeitig Superpatriot und „Musterschüler des Kemalismus“ zu sein.

Der Turanismus ist deshalb kein Problem, weil die anatolischen Bauern, die die Bevölkerungsmehrheit stellen, mit nationalen Expansionsparolen nicht zu gewinnen sind (religiöse Schlachtrufe fallen hingegen hier auf einen gefährlich aufnahmebereiten Boden), während die Intelligenz teils an den kemalisti-schen Grundsätzen eisern festhält, zu denen Atatürks Parole „Frieden im Innern, Frieden nach außen“ und das Absehen von jeder Terri'torialforde-rung gehört, teils links steht. Und linke Bewegungen sind bekanntlich jederzeit bereit, sich mit nationalen Bewegungen zu amalgamieren, werden aber nicht so leicht selbst zu Kristallisationskernen nationaler Bewegungen.

Diese Voraussetzungen kommen (von türkischer Seite) der Lösung des Zypern-Problems zugute. Niemand in der Türkei will die ganze Insel unter den Halbmond zurückholen. Der griechischen „Enosis“, Vereinigung ganz Zyperns mit Griechenland, stellen die Türken die Alternative „Tak sim“, Aufteilung, oder Selbständig' keit mit militärischen Garantien für die türkische Minorität gegenüber.

Der griechische Nationalismus wendet sich ebenfalls nach Osten — „Enosis“ ist nur das traurige Überbleibsel größerer neo-byzantinischer Ideen. „Megali idea“ ist noch nicht sehr lange tot. Ihre Wurzeln sitzen tief im griechischen Uber-Ich, „megali idea“ war die Hauptursache des griechisch-türkischen Krieges der frühen zwanziger Jahre und motiviert auch heute noch griechische Politiker — oft vielleicht unbewußt.

„Megali idea“, die panhellenische „große Idee“, zielte auf die Wiederherstellung eines byzantinisch- großhellenischen Reiches unter Einbeziehung der vor Jahrtausenden griechisch kultivierten westanatolischen Gebiete. Diese Idee wurde im 19. Jahrhundert, im Zeichen der griechischen Emanzipation von der türkischen Kolonialmacht, geboren. Als Griechenland im 20. Jahrhundert zur Verwirklichung dieser Idee ansetzte, war ihre Zeit längst vorbei. Aber es ist keine Übertreibung, zu sagen, daß die Türkei als verwestlichter, moderner kemalistischer Staat ohne die griechische Invasion des Jahres min nicht existieren würde. Das griechische Nationalbewußtsein entstand und wuchs unter dem osmanischen Druck. Unter dem griechischen Gegendruck entstand die moderne Türkei. Es war der griechische Überfall, der Atatürk an die Macht brachte. Hätte er nicht stattgefunden, wäre Atatürk wohl nicht Atatürk geworden, sondern als pensionierter General Mustafa Kemal in Pension gegangen, und auch von Ismet Inönü hätte die Welt in diesem Falle kaum gehört. Denn mangels der Schlachten von Inönü hätte Ismet Pascha dort auch nicht siegen und zu einem der Mitarchitekten der modernen Türkei aufsteigen können.

Die Tatsache, daß die Türkei diesen Krieg gewann, Griechenland ihn verlor, verstärkte bei den immer schon extremen Inselgriechen vor allem Zyperns den Haß gegen die türkischen Mitbürger — Vertreter jener Macht, die Griechenland durch Jahrhunderte unterdrückt hatte (bekanntlich hielt das christliche By-zanz in dem mit Ketten abgesperrten Goldenen Horn noch jedem muslimischen Eroberungsversuch stand, als die türkischen Truppen Athen längst bezwungen hatten), während dieser Sieg das in Jahrhunderten einer Fast-Weltherrschaft saturierte türkische Nationalgefühl nur bestätigen und damit beruhigen konnte.

Die Türkei erlitt, obwohl ihre Streitmächte den Ersten Weltkrieg so gut wie ungeschlagen durchstanden, nach dem Ersten Weltkrieg einen Totalverlust aller nicht-türkischen Reichsgebiete. Es war das Ende eines hundertjährigen Niederganges und eines schweren innenpolitischen und finanziellen Mismana-gements. Die Besetzung der Hauptstadt durch die Alliierten konnte von den Türken in dem Bewußtsein, die Besatzer würden eines Tages ja doch wieder verschwinden, eher ertragen werden als die griechische Invasion — um so mehr, als kein Zweifel daran bestehen kannte, daß die bei Iz-mir am 15. Mai 1919 unter dem Schutz britischer, französischer und amerikanischer Kriegsschiffe an Land gesetzten Truppen nicht als zeitweilige Besatzungsmacht erschienen. Sie kamen, um den Westen Anatoliens einem neuen Großhellenischen Reich beiderseits der Ägäis, einem neuen byzantinischen Reich, einzuverleiben. Die Spitze des Osmanischen Reiches war doppelt handlungsunfähig — auf Grund inneren Verfalls, ebenso wie durch die Anwesenheit fremder, mit den Invasoren sympathisierender Truppen in der Hauptstadt. Der „Kranke Mann am Bosporus“ lag im Sterben, und daran waren nicht nur die 60 fremden Schiffe schuld, die seit dem 13. November im Hafen von Konstan'tinopel ankerten.

Als die Griechen Izmir (das alte Smyrna) besetzten, standen italienische Landungstruppen, die am 29. April in Antalya an Land gegangen waren, bereits zwei Wochen auf türkischem Boden, um sich der ihnen von den Alliierten in verschiedenen Vereinbarungen während des Ersten Weltkrieges zugesprochenen türkischen Gebiete zu versichern. Da aber Italien auch auf Izmir Anspruch erhob, hatten sich die Griechen beeilt, ihnen zuvorzukommen.

Der griechische Vormarsch in östlicher Richtung begann alsbald und der Sultan, der sich in sein Schicksal ergab, schickte den erfolgreichen General Mustafa Kemal nicht um zu kämpfen und zu siegen nach Anatolien, sondern um die Widerstandsgruppen, die sich dort formiert hatten, zur Raison zu bringen und die Reste der Streitkräfte gemäß den Abmachungen mit den Alliierten zu demobilisieren. Atatürk tat bekanntlich genau das Gegenteil.

Die Schwäche des ancien regime und die drohende Aufteilung der Türkei zwischen Siegermächten, die selbst in den türkischen Kerngebieten Anatoliens nur eine Rumpf-Türkei leben lassen wollten, schufen jene Notsituation, in der' eine Rettung nur noch möglich war, wenn sich eine starke, unangefochtene Führerpersönlichkeit fand — und die richtigen Entscheidungen traf. Mustafa Kemal war alles andere als ein nach politischer Macht gierender, auf seine Chance wartender General. Man kann sagen, daß die Krise der griechischen Invasion ihn zu dem ge. macht hat, was er wurde — und damit das Schicksal und das künftige Gesicht der Türkei bestimmte.

Die Griechen drangen tief nach Anatolien vor — bis zum Fluß Sa-karya, womit sie bereits die alte Stadt Ankara, in der sich die Führung der „Rebellen“ formierte, bedrohten. Denn vor dem entscheidenden Sieg waren, die zum Weiterkämpfen entschlossenen Kräfte in der Sicht des Sultans Abtrünnige, und Mustafa Kemal wurde von einem Istanbuler Militärgericht in absentiam zum Tod verurteilt. Die material- wie zahlenmäßig unterlegenen Türken wurden in den ersten Kriegsphasen schwer geschlagen, bevor es Ismet Pascha gelang, ihnen in den Schlachten von Inönü die ersten Niederlagen zuzufügen. Den entscheidenden Sieg erfocht Mustafa Kemal am 24. August 1921 am Sa-karya; die Nationalversammlung in Ankara verlieh ihm den Titel Gazl, was Sieger im Heiligen Krieg bedeutet, und später den Familiennamen Atatürk, Vater der Türken.

Ein türkischer Geschichtsschreiber hat den Unterschied zwischen Atatürk und Enver Pascha treffend charakterisiert: „Wäre Mustafa Kemal 1914 Kriegsminister gewesen, hätte er die Türkei niemals in den Ersten Weltkrieg hineingestoßen. Hätte Enver 1922 Izmir mit demselben Elan wie Mustafa Kemal besetzt, wäre er weitermarschiert, um Syrien und den Irak zu besetzen (welche die Türkei im Ersten Weltkrieg verloren hatte, Arwn. d. Red.) und alles, was er gewonnen hätte, wieder verspielt.“

Da der Sieger nicht Enver Pascha, sondern Mustafa Kemal hieß, ist die türkische Außenpolitik seither auf territoriale Integrität und Bewahrung des Status quo programmiert. Um die türkische Politik gerade in der Zypernfrage zu verstehen, muß man wissen, daß Atatürk seinen Landsleüten von der Stunde des Sieges an keine Expansionsbestrebungen und auch keine imperialen ideologischen Wolkenkuckucksheime gestattete. Der Retter wurde zum Lehrer, der sich fortan nur noch um die innere Entwicklung des Landes kümmerte, um die Erziehung und um die wirtschaftliche Gesundung.

Atatürk versehmerzte die Erdölgebiete von Mosul, die er in Lausanne unter britischem Druck hatte abtreten müssen, und steuerte einen Kurs der Versöhnung gegenüber England und Griechenland. Mögliche türkisch-griechische Konfliktstoffe wurden ausgeräumt: 500.000 Türken und mehr als eine Million Griechen kehrten in ihre „Heimatländer“ zurück, die seit Generationen nicht mehr ihre Heimat waren. Immerhin wurde nicht zuletzt die Million griechischer Rückwanderer aus Anatolien zu einem Motor der griechischen Landreform, die Griechenland eine sehr günstige, breit gestreute Verteilung des Bodenbesitzes verschaffte.

Die Türkei hat beim großen Menschentausch mehr verloren als Griechenland — während die Bevölkerung von Istanbul von 1927 bis 1965 von 700.000 auf eindreiviertel Millionen wuchs, sank der griechische Anteil von 100.000 auf 60.000, womit die Türkei um einen gewaltigen Welt-handels-Knowhow ärmer wurde.

Atatürk zielte früh auf das, was man heute Neutralismus nennen würde, und es waren der türkische Respekt gegenüber internationalen Abmachungen, und die türkische Sympathie für alle Ideen der kollektiven Sicherheit, die die Türkei nach 1945 zu verläßlichen Partnern des westlichen Bündnissystems machten. Die NATO war in gewissem Sinn eine Fortsetzung türkischer Vorkriegspolitik: im Zeichen des erstarkenden Faschismus und Nationalsozialismus favorisierte die Türkei seit 1933 die im Februar 1934 zwischen der Türkei, Griechenland, Rumänien und Jugoslawien abgeschlossene Balkan-Entente. Die Insel Leros, bis zum Zweiten Weltkrieg ein stark befestigter italienischer Flottenstützpunkt unmittelbar vor der türkischen Küste, wurde als Bedrohung empfunden (unter dem griechischen Obristenregime fanden die Kasernen auf Leros als Gefängnisse neue Verwendung). Dabei verfolgte die Türkei allerdings bis zum Zweiten Weltkrieg die Idee der Bündnisse zwischen kleinen und mittleren Mächten zum Schutz vor Großmächten, was Griechenland schon damals zu einem türkischen Wunschpartner machte.

Ein echter, unüberbrückbarer Interessengegensatz in der Zypern-frage besteht heute weniger denn je, wenn es gelingt, das von den türkischen Invasoren geschaffene fait ac-compli eines türkischen Korridors von Nikosia zum Meer nebst besseren Garantien und einem besseren Status für die Minderheit vertraglich zu institutionalisieren.

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