6864054-1977_48_01.jpg
Digital In Arbeit

Feindliche linke Brüder

Werbung
Werbung
Werbung

Die internationalen Ereignisse der letzten Monate, die weltweites Interesse erweckten, haben auch in Frankreich die öffentlichen Diskussionen angefacht und dadurch den anlaufenden Wahlkampf, der zu einer Erneuerung des Parlaments im März 1978 fuhren soll, in den Hintergrund gerückt. Das will allerdings nicht heißen, daß Paris vollkommen vergessen hätte, wie sehr diese am Horizont sich abzeichnende innenpolitische Schlacht das Schicksal der Nation beeinflussen wird. Denn es geht nicht darum, daß eine Parteigruppierung durch eine andere ersetzt wird, die Bürger müssen sich vielmehr zwischen zwei Gesellschaftssystemen entscheiden: hier die liberale Ordnung, dort eine sozialistische; wobei die Repräsentanten dieser zweiten Lösung immer wieder beschwören, daß es nicht darum gehe, das sowjetrussische, oderauch nur das jugoslawische Modell zu kopieren. Seit Monaten zeigen die unermüdlich durchgeführten demoskopischen Untersuchungen, daß die Wählermassen trotz des Zusammenbruchs der linken Union noch immer ihr Heil in einer Volksfront sehen.

So gibt das seriöse Meinungsforschungsinstitut SOFERES bekannt, daß 49 Prozent der Bürger sich für die Linksparteien interessieren und ihnen die Stimme geben wollen, während die bisherige Majorität 47 Prozent erreichen dürfte und die verschiedenen Gruppen der Umweltschützer es auf vier Prozent der Wählerstimmen bringen werden. Falls diese Prognose richtig sein sollte, müßte noch untersucht werden, inwieweit beim zweiten Wahlgang die verschiedenen Kandidaten mit einer Unterstützung anderer Parteien rechnen können. Im Falle eines Wahlsieges der Sozialisten, Kommunisten und linken Radikalsozialisten ist zu prüfen, in welchem Ausmaß die Wähler eine Volksfrontregierung wünschen , oder ein Kabinett der nichtmarxistischen linken Mitte.

Zahlreiche Experten der Innenpolitik suchen natürlich zu begründen, mit welchen Chancen die drei Linksparteien nach dem Zusammenbruch zahlreicher Illusionen in der Lage sind, ein Team zu bilden, das bereit ist, mit dem gegenwärtigen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing zusammenzuarbeiten. Denn auch weiterhin bleibt er an der Spitze des Staates; nach wie vor räumt ihm die Verfassung große Prärogativen ein. Giscard d’Estaing hat in den letzten Wochen auffallend wenig gesprochen, hat aber systematisch die Vertreter zahlreicher Berufsstände zu köstlichen Mahlzeiten eingeladen, um die Sorgen und Wünsche all dieser Männer und Frauen kennenzulernen und um sie seinerseits mit den Reformvorschlägen vertraut zu machen.

Aber auch sein unmittelbarer Mitarbeiter, Ministerpräsident Raymond Barre, hat sich bisher nicht in den Dschungel gewagt, in dem die Regierungsparteien ihre Gegensätze austragen und um günstige Plätze für ihre Kandidaten streiten. Lange Zeit hindurch blieb unklar, ob sich der Ministerpräsident persönlich den Wählern stellen werde. Raymond Barre, der immer wieder erklärte, daß er die Geschicke der Nation nur als Wirtschaftsfachmann zu lenken habe, entschloß sich schließlich, in einem „sicheren“ Wahlkreis der Stadt Lyon als Kandidat aufzutreten. Gelegentlich hört man, die Regierung habe ein Wahlpro gramm entwickelt, das sie zu gegebener Zeit publizieren werde. Nach wie vor hoffen die Kreise, die dem Regime nahestehen, eine neue Majorität schaffen und den bisherigen Vorrang der gaullistischen Partei RPR bręchen zu können. Dies ist seit Beginn der Amtstätigkeit Giscard d’Estaings eines der beliebtesten Themen der nichtgaullistischen Regierungsparteien. Die Partei Giscard d’Estaings, die sich kurz und schlicht Republikanische Partei nennt, hat jetzt im ganzen Land jene Kader, die für das Management einer politischen Partei unumgänglich notwendig sind, sah sich jedoch genötigt, auch die anderen Parteien der Majorität als wichtige Elemente eines nationalen Bündnisses anzuerkennen. So schlossen sich die gaullistische Bewegung RPR, die Republikaner und die Zentrumspartei zusammen, um Wahlkreis auf Wahlkreis zu studieren und jene Kandidaten aufzustellen, die reelle Chancen haben, schon im ersten Wahlgang eine relative Mehrheit zu erzielen. Der Motor dieser Koalition ist ohne Zweifel der Bürgermeister von

Paris und Präsident der RPR, Jacques Chirac. Trotz der Schwerarbeit als oberster Stadtvater der Metropole, unternimmt Chirac ausgedehnte Reisen durch alle Regionen Frankreichs, um auch den letzten Wähler zu mobilisieren. Oft spricht er zehnmal am Tage an verschiedenen Orten und keine Anstrengung scheint ihm zu groß zu sein. Allerdings leidet darunter seine eigentliche Amtstätigkeit. Bisher sind denn auch noch keine überwältigend großen Projekte für Paris zutage gekommen. Trotzdem ist selbstverständlich der Besitz des Rathauses von Paris ein wichtiges Atout im Kampf um die staatliche Macht. Unmittelbar nach den Gemeinderatswahlen wurde Chirac von den Spitzenvertretem der nichtgaullistischen Parteien der Majorität mit Totschweigen bestraft. Aber seit dem Ende des Sommers mußten sich die Berater des Staatspräsidenten damit abfinden, daß der Bürgermeister von Paris eine wichtige Figur bei den kommenden legislativen Wahlen sein wird. Soweit es die Entscheidung der Bürger betrifft, ob sie Gaullisten oder Republikaner wählen werden, dürften die Würfel noch nicht gefallen sein. Natürlich werden die Gaullisten Haare lassen müssen, aber wie hoch die Verluste sein werden, kann vorläufig noch nicht geschätzt werden.

Von einer Zusammenarbeit mit den bisherigen Regierungsparteien hat sich Servan-Schreiber, Präsident der Radikalsozialisten, deutlich distanziert. Bekanntlich existieren zur Zeit zwei radikalsozialistische Parteien, deren eine zur linken Union tendiert, während die andere eine eigenartige Zwitterstellung innerhalb der Majorität einnimmt. Nun wird die Möglichkeit studiert, ob die beiden getrennten Flügel des traditionsreichen Radikalsozialismus sich wieder vereinen und eine Partei bilden könnten, die dann im Parlament das Zünglein an der Waage wäre.

Will man die Situation im linken Lager analysieren, so fühlt man sich versucht, den Titel eines einst weltberühmten Buches zu zitieren: „Im Westen nichts Neues“. Jede Woche beteuert ein maßgebender Funktionär der Linksparteien, bereit zu sein, ohne Bedingungen die Verhandlungen wieder dort aufzunehmen, wo sie im September gescheitert sind. Aber bisher hat niemand diese Bekenntnisse ernst genommen und sogar der Druck der beiden mächtigen Gewerkschaftsorganisationen genügte nicht, um Sozialisten und Kommunisten miteinander zu versöhnen. Der B ruch zwischen diesen beiden Parteien geht tatsächlich tiefer, als ursprünglich angenommen worden war. Die Sozialisten mußten in manchen GemeindeVerwaltungen erleben, daß die Kommunisten ihre Stärke rücksichtslos gegen den Partner ausspielen und die Zusammenarbeit nur unter dem Gesichtspunkt der eigenen Interessen verstehen wollen. Auch weiterhin wird Mitterrand von den Kommunisten verdächtigt und bekämpft. Allerdings gehen die Sozialisten auf das Spiel Marchais’ und seines Politbüros nicht ein und glauben, daß nach Wahlen, aus denen die Sozialisten als stärkste Partei Frankreichs hervorgehen könnten, ein neues Regierungsprogramm vorlegen zu können, das die Kommunisten auf ihre Plätze verweisen Würde.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung