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Ferien mit Gespenst

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Der ausländische Beobachter, mag er schon seit vielen Jahren in Frankreich leben, wird immer wieder von einem Phänomen überrascht sein, das spezifisch für dieses Land ist.

Von Mitte Juli bis Ende August schläft die wirtschaftliche Tätigkeit einer westlichen Industrienation ein. Nicht nur die großen Werke unterbrechen vier Wochen lang die Produktion. Auch der Bäcker, Gemüsehändler und Fleischhauer schließt seinen Laden und macht das Leben in Paris für die wenigen, die trotz alledem ausharren, zu einem Problem. 1975 werden 26 Millionen Bürger die Freuden des Strandlebens genießen oder die reine Luft der Gebirgsgegenden einatmen. 16 bis 18 Prozent der Ferienhungrigen suchen sich jenseits der Grenzen, und da besonders wieder in Spanien, zu erholen: Aber die Masse der Son-nenbungtigen drängt sich auf den engen Streifen der Atlantik- und Mittelmeerküste zusammen. Jedes Jahr wieder! Aber dieser

Sommer wird von der überwiegenden Mehrheit der Franzosen nicht im gleichen Rhythmus erlebt, wie dies in den vergangenen Jahren der Fall war. Man gewinnt den Eindruck, daß die Millionen Feriengäste aus Trotz dennoch das Abenteuer wagen und ihre Arbeitsplätze für einige Zeit verlassen. Mit einer gewissen Fatalität, manchmal mit Angst, werden die Zelte auf den Campingplätzen aufgeschlagen oder die Preise in den Hotels und Pensionen diskutiert. Es fehlt die spontane Freude. So mangelt der Wille, abzuschalten und aus der täglichen Umwelt zu entfliehen.

Staatspräsident Giscard d'Estaing hatte am Vorabend der Urlaubszeit im Fernsehen eine Rede gehalten, besser gesagt, eine Plauderei, und gemäß der Methode Coue folgenden überraschenden Schluß gezogen: „Liebe Landsleute, euch geht es ja gut, besser, am besteri,,w1e$.n #}an die, Situation der V. Republik mit jener in zahlreichen anderen Teilen der Welt vergleicht. Die oft angedrohten

Katastrophen sind nicht eingetroffen. Der Frühling war keineswegs so heiß, wie man vielfach angenommen hatte.“

Es ist den Gewerkschaften nicht gelungen, die Arbeitnehmer in gewaltigen Streikwellen zu mobilisieren. Wohl sind 200 Fabriken durch Streiks paralysiert. Diese Arbeitsniederlegungen (sie dauern am Beginn der großen Sommerwanderungen noch an) betreffen sämtliche Regionen und alle Branchen des Wirtschaftslebens. Allerdings weisen die Sachverständigen auf den Umstand hin, daß die Zahl der Streikenden in der Gesamtheit kaum 150.000 Personen übersteigt. Die Natur dieser Arbeitsniederlegungen unterscheidet sich vielfach von den üblichen sozialen Bewegungen der letzten Jahre. In den meisten Fällen handelt es sich um einen Kampf zur Rettung der Arbeitsplätze. Die betroffenen Fabriken wollten jeweils einen Teil der Belegschaft entlassen. Diese reagierte heftig und besetzte die Arbeitsstätten und Maschinenhallen. Es handelt sich um hartnäckige Konflikte, die oft Wochen und Monate hindurch andauern.

Nur selten kommt es zu sofortigen Verhandlungen. Die Behörden und Unternehmer rechnen mit der Müdigkeit der Betroffenen und zögern, Zusagen zu machen oder Entlassungen zurückzunehmen.

Gelegentlich versuchten Arbeiter und Angestellte nach dem Vorbild der Uhrenfabrik Lip eine „Selbstverwaltung“ einzurichten.

Dies dauert natürlich nur so lange, wie es die Vorräte an Rohstoffen und Halbfertigfabrikaten gestatten. Die Streikenden besitzen in den seltensten Fällen die finanziellen Mittel, um diese Initiative durchzustehen ^A^WS5fett?ßJwicfeeln,,,Die, beiden ergt^G&werks^haf^szgntralea wollten diese Malaise ausnützen und an der sozialen Front größere und größte Brandherde schaffen. Ihren Aktionen war ein höchst relativer Erfolg beschieden. Sobald die Wartenden die Büros der Arbeitsvermittlungen füllen, erlahmt der Wille, Streikparolen zu folgen.

So kann man sagen, das unheimliche Gespenst der Jahre um 1930 schwebt über Millionen, die an den Sandstränden einige Wochen des Friedens und des Ausspannens suchen. Selbst von regierungsfreundlichen Publizisten und Wirtschaftsfachleuten wird dem Kabinett vorgeworfen, daß es an konstruktiven Plänen mangle, um die Wirtschaft in Schwung zu setzen. Von allen Seiten wird der Finanz- und Wirtschaftsminister Jean-Pierre Fourcade eingeladen, seine bisherige Politik zu überdenken und zu revidieren. Sieben Monate schon dauert das Stagnieren der industriellen Produktion an. Schon jetzt steht fest, daß bis Mitte 1975 um 10 Prozent weniger produziert wurde als im Referenzjahr 1974. Die Regierung hatte den Unternehmern Prämien versprochen, sobald diese geneigt wären, Investitionen vorzunehmen. Noch nie seit dem Beginn der V. Republik zeigen sich die Fabrikanten derart pessimistisch wie in unseren Tagen. Es ist nicht gelungen, die Franzosen in Konsumenten größeren Stils zu verwandeln. Mit Sehnsucht haben die Experten über den Rhein geblickt und sich von den Maßnahmen Bundeskanzler Schmidts ein Mirakel für die eigene Wirtschaft erwartet. Die enge Verzahnung der französischen mit der deutschen Wirtschaft bringt es mit sich, daß

Paris zumindest auf dem Gebiet der Ankurbelung der Produktion von Bonn abhängig ist.

Natürlich gelang es von allen OECD-Staaten der Bundesrepublik noch am besten, die Inflation zu bannen. Sie mußte jedoch das Opfer einer hohen Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen. Im Vergleich dazu hat Frankreich proportionell die gleiche Anzahl von Arbeitslosen, konnte aber die Inflationsrate nicht senken.

Auf der Ebene des Kaufkraftschwundes vermag die Regierung Chirac keine Siegesmeldungen auszugeben. Jedem Urlauber wird zum Beispiel bewußt, um wieviel der Preis der Sonne in diesen schönen Julitaigen gestiegen ist. Für die Miete von Ferienhäusern muß man um 10 Prozent mehr rechnen, die Hotels steigerten ihre Preise um 9 Prozent und wer seine Kinder in Ferienkolonien sendet, erlebt höchst unangenehme Überraschungen.

Die selben Dienstleistungen werden manchmal mit bis zu 50 Prozent Aufschlag kalkuliert. Damit erzeugt dieser Urlaub einen höchst bitteren Beigeschmack. Die Massen denken in einer gefährlichen Vereinfachung: nach diesem Sommer komme ohnehin die Sintflut und es sei vielleicht das letzte Mal, daß man der geheiligten Einrichtung des Urlaubes ein Opfer bringen könne. Wird sich die Regierung etwas während der Augusttage einfallen lassen, um die Wachstumsrate Null positiv zu verändern? Die Antwort auf diese Frage bestimmt die Zukunft des liberalen Kurses Giscard d'Estaings.

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